Es ist Samstag. Wir bereiten uns auf einen Angriff aus dem Iran vor.
Kurz zuvor hatte es eine vorläufige Entwarnung gegeben. Man müsse sich momentan nicht mehr in der Nähe eines Schutzraumes aufhalten. Wenn es hochkommt, habe ich drei Stunden geschlafen. Schrillte gerade keine Sirene, benutzte mich Ginny, die Katze meiner Tochter, als Kopfkissen.
Die Nacht haben wir auf dem Sofa meiner großen Tochter übernachtet. Sie hat einen unterirdischen Luftschutzbunker in ihrem Apartmentgebäude. Inklusive Filteranlage und netten Nachbarn.
An diesem Morgen herrscht gespenstische Stille
Zu Fuß dauert es von ihrer Wohnung bis zu unserem Haus ungefähr zehn Minuten, wenn man rennt, sind es fünf bis sechs. Es ist kurz nach elf, normalerweise spazieren auf den Straßen unserer Wohngegend im Süden Tel Avivs zu dieser Zeit Massen von Ausflüglern, sind die Cafés überfüllt. An diesem Morgen herrscht gespenstische Stille. Alles ist geschlossen, die Straßen sind menschenleer. Ein einzelner Fahrradkurier düst an uns vorbei. Sonst niemand.
Zu Hause angekommen, besprechen wir den Tag. Doch es geht weder um Einkaufslisten noch um Hausaufgaben. Es geht ums Überleben. »Kommt der Amber-Alert, dann zieht rasch die Schuhe an, nehmt eure Taschen und dann mit schnellem Schritt in den öffentlichen Bunker. Nicht rennen, damit niemand fällt«, sage ich meinen Kindern. »Jetzt fix die Taschen mit dem Nötigsten packen, dann duschen.«
»Du wärst gut als Armeeoffizierin.« Mein Mann stupst mich in die Seite und zwinkert. Mir ist nicht nach Lachen zumute.
Wir duschen nacheinander, maximal zwei Minuten, die Kleidung liegt griffbereit. Jederzeit können die Sirenen wieder schrillen. Ich versuche, ruhig zu bleiben, mache mir einen Kaffee und beginne, einen Artikel zu schreiben. Immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Es ist schwer, sich nach zwei Nächten mit maximal vier Stunden Schlaf zu konzentrieren.
Unser Haus ist 100 Jahre alt – es gibt keinen Schutzraum
In unserem Haus gibt es keinen Schutzraum. Es ist hundert Jahre alt. Die Geschosse aus Gaza, von der Hisbollah und den Huthi aus dem Jemen haben wir auf unserer Treppe ausgesessen, ein angeblich relativ sicherer Ort. Doch die Bedrohung aus dem Iran ist eine ganz andere, das wissen wir spätestens seit letzter Nacht. Ein Hochhaus im Zentrum wurde direkt getroffen und schwer beschädigt, Privathäuser in Vororten gleichen nach Einschlägen fast dem Erdboden. Hier in unserem alten Haus können wir bei einem Angriff nicht bleiben, das ist klar.
Den Tag über bleibt es ruhig, wir lenken uns mit Disneyfilmen und Brettspielen ab. Langsam naht der Abend, draußen wird es dunkel. Ich koche Spaghetti mit Tomatensoße und mache einen Salat. Schnell soll es gehen. Jederzeit könnten die Pings des Amber-Alerts wieder auf dem Telefon ertönen. Dann lassen wir alles stehen und liegen. Wir essen rasch und wortlos, richtig Appetit hat niemand. Die Stimmung schlägt uns auf den Magen.
Ich umarme meine Kinder zum Abschied. Vielleicht etwas fester als sonst.
Meine kleinen Kinder werden auch diese Nacht bei ihrer großen Schwester auf dem Sofa schlafen – so sie überhaupt zum Schlafen kommen. Mein Mann und ich bleiben zu Hause. Ich umarme sie fest zum Abschied. Vielleicht etwas fester als sonst.
Kurz nach elf Uhr pingt es. Obwohl wir den ganzen Tag damit gerechnet haben, zucke ich zusammen. Wir machen uns auf den Weg. Der öffentliche Bunker ist voller Leute, mindestens 50 sitzen auf alten Bänken und dem Boden. Dazwischen wuseln mehr als zehn Hunde herum. Sirene, Stimmengewirr, Hundegebell und das dumpfe Dröhnen der Abschüsse über unseren Köpfen vermischen sich zu einer Kakophonie des Wahnsinns.
Diejenigen, die nah an der Tür stehen, haben schwaches Internet. Sie halten die anderen auf dem Laufenden. »Einschlag im Norden«, sagt ein junger Mann. Später, wieder in unserem Bett, lesen wir, dass in der Stadt Tamra eine Mutter mit ihren zwei Töchtern und eine Freundin durch einen direkten iranischen Einschlag getötet wurden. Wir sind schockiert.
Einen Tag zuvor hatte es bei einer Welle aus dem Iran keine Warnung gegeben. Es gab weder Pings noch Sirene. In Rischon Lezion, weniger als eine halbe Stunde von uns entfernt, wurden zwei Menschen durch eine Rakete getötet. Mit dunklen Gedanken schlafe ich ein. Sind wir irgendwo sicher?
Kurz vor drei Uhr schreit die App mit dem Warnsystem in unsere Ohren
Irgendwann, kurz vor drei Uhr, schreit die App mit dem Warnsystem in unsere Ohren. Es beginnt von vorn. Dann, im Bunker, die erste Sirene ist bereits vorbei, schrillt eine zweite los. Das Wummern wird lauter, und häufiger. Die Menschen schauen sich an, Sorgenfalten in der Stirn. Eine halbe Stunde später: Entwarnung.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich eingeschlafen bin. Aber ich weiß, dass ich ein ungutes Gefühl habe, als ich aufwache. Von zu wenig Schlaf. Von zu vielen Sorgen.
Nachrichtenjunkies sind wir alle in diesem Land. Zehn Tote. Mir stockt der Atem. In Bat Yam, in Rechowot. Unsere besten Freunde wohnen dort. Ich rufe an. Meine Freundin ist den Tränen nah. »Der Einschlag war 700 Meter von uns entfernt. So einen Knall habe ich in meinem Leben noch nicht gehört. Die Wände des Bunkers haben gewackelt.«
Ich höre Panik in ihrer Stimme. Sie hätten die ganze Nacht im unterirdischen Schutzraum ihres Apartmentgebäudes verbracht, erzählt sie. Sie habe zu viel Angst gehabt, in ihre Wohnung zurückzukehren und vielleicht ohne Warnung von Raketen überrascht zu werden. »Aber weiß ich denn, ob ich in unserem Bunker sicher bin?«, sagt sie und verstummt. Ich versuche sie zu beruhigen. Sie schluchzt. »Und was ist, wenn das Haus darüber zusammenbricht?«
Ich schreibe Whatsapps an meine Familie und Freunde in der ganzen Welt. Alle fragen, wie es uns geht. »Wir sind ok und in Sicherheit«, antworte ich meist. Vielleicht hänge ich noch ein Foto von den Kindern an. Dass wir langsam, aber sicher in Panik geraten, lasse ich weg.
Es ist Sonntagnachmittag. Wir bereiten uns auf den nächsten Angriff aus dem Iran vor. Da kommt der Aufruf: Wir müssen in den Bunker ...