Nachruf

Zeuge des Unfassbaren

Zwi Steinitz (r.) mit Dietmar Woidke (SPD), Ministerpräsident von Brandenburg, bei der Verleihung des Verdienstordens des Landes Brandenburg Foto: dpa

Gibt es eine schrecklichere Seelenqual als jene, die der Schoa-Überlebende Zwi Steinitz bis zu seinem Tod am vergangenen Schabbat ertragen musste? Es war sein 15. Geburtstag, der 1. Juni 1942, und die Familie hatte sich auf dem Sammelplatz des Ghettos Krakau einzufinden für den ersten Transport ins Vernichtungslager Belzec: sein Vater, ein dekorierter Frontkämpfer des ersten Weltkrieges, Professor für Deutsch, Englisch und Französisch am Schillergymnasium in Posen, seine hochmusikalische Mutter und sein Bruder Rudolf.

Helmut, der spätere Zwi, hatte eine Arbeitsgenehmigung erhalten und sollte im Ghetto bleiben, durfte aber die Familie zum Sammelplatz begleiten.

sammelplatz Der Vater, erschüttert und verbittert von all der deutschen Brutalität, hält es nicht mehr aus. In der Schlange vor dem Sammelplatz stehend schreit er die SS-Wachen an: »Ihr Mörder! Ihr Mörder und Verbrecher!« Es wird totenstill. Die am Lagereingang stehenden jüdischen Polizisten stoßen ihn durchs Tor, er verschwindet in einer Gruppe von Opfern oder Tätern.

Helmut kehrt zurück in das leere Zimmer, als plötzlich seine Mutter in der Tür steht. Sie hat den Sammelplatz verlassen, weint und schluchzt. Helmut versucht verzweifelt zu erfahren, was auf dem Sammelplatz geschehen ist. Sie kann nicht sprechen vor Entsetzen, umarmt ihn, kehrt zurück zum Sammelplatz und verschwindet im Viehwaggon. Einen Tag später sind alle tot.

Helmut überlebt Plaszow, Auschwitz, den Todesmarsch und Buchenwald wie durch ein Wunder. Er zieht nach Israel, baut den Kibbuz Buchenwald mit anderen Schoa-Überlebenden auf, lernt die Berliner Überlebende Regina kennen, gründet eine Familie.

Regina und Zwi bekommen zwei Kinder, ziehen nach Tel Aviv. Zwi arbeitet in einem Blumengroßhandel – und schweigt, schweigt über alles, was er ertragen musste. Erst als die Kinder erwachsen sind und der Wohlstand gesichert ist, verdunkelt sich die Seele, er sucht Hilfe bei der psychosozialen Hilfsorganisation Amcha, die schwersttraumatisierte KZ-Opfer betreut, und vertraut sich einer Psychologin an.

Jahrzehntelang hat Zwi nicht über seine Erlebnisse gesprochen.

Zwi Steinitz beginnt zu erzählen, und ein weiteres Wunder seines Lebens geschieht. Er wird 60 Jahre nach der Katastrophe zum unermüdlichen Zeugen der Vergangenheit, er besucht Deutschland, berichtet in Schulen und hält Vorträge. Die Familie, seine wunderbare Frau Regina, seine Tochter Shlomit und sein Sohn Ami unterstützen ihn.

Der Historiker und Soziologe Erhard Roy Wiehn von der Universität Konstanz hat mit ihm nach monatelangen intensivsten Gesprächen die Lebenserinnerungen erarbeitet: Als Junge durch die Hölle des Holocaust. Etliche weitere Bücher folgten.

GEDICHTE Zwi Steinitz war für Wiehn ein unbegreifliches Beispiel dafür, wie man trotz dieser schrecklichen Erlebnisse nicht nur Mensch bleiben, sondern eine Seele von Mensch sein kann. Mein Mann und ich haben für Regina und Zwi in Berlin einen Schabbatabend ausgerichtet, der damals 90-Jährige saß im Kreise deutscher Freunde und berichtete eindringlich, aber voller Bescheidenheit. Im Januar dieses Jahres habe ich Zwi ein letztes Mal in Tel Aviv besucht und ihn lange interviewt. Er schrieb in den vergangenen Jahren jeden Tag Gedichte über die Schoa, auf Deutsch, noch sind sie nicht erschienen.

Meine Schlussfrage berührte den unfassbaren 1. Juni 1942. Nie hat Zwi erfahren, was nach dem »Mörder! Verbrecher!«-Ruf seines Vaters auf dem Sammelplatz geschah. Ich wollte wissen, ob ihn dies manchmal in Albträumen heimsuche. Er blickte mich lange aus seinen unendlich klugen Augen an. »Dazu brauche ich keine Träume in der Nacht. Daran denke ich jeden Tag.«

Israel

Antisemitismus-Beauftragter wirft Sophie von der Tann Verharmlosung der Hamas-Massaker vor

Die ARD-Journalistin soll in einem Hintergrundgespräch gesagt haben, dass die Massaker vom 7. Oktober eine »Vorgeschichte« habe, die bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches zurückreiche

 25.11.2025

Ramallah

Nach Hammer-Angriff auf Israeli - mutmaßlicher Täter getötet

Vor mehr als einem Jahr kam ein israelischer Wachmann im Westjordanland bei einem Angriff ums Leben. Seitdem haben israelische Sicherheitskräfte nach dem flüchtigen Täter gesucht

 25.11.2025

Waffenruhe

Hamas-Terroristen übergeben mutmaßliche Geisel-Leiche

Die Terroristen müssen noch die sterblichen Überreste von drei Geiseln übergeben

 25.11.2025

Wetter

Sturzfluten in Israel

Nach extremer Hitzewelle bringen erste heftige Stürme und Niederschläge Überschwemmungen im ganzen Land

von Sabine Brandes  25.11.2025

Hochzeit des Jahres

Hochzeit des Jahres

Daniel Peretz und Noa Kirel haben sich getraut

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Gesellschaft

Familienforum für Geiseln schließt seine Pforten

Nach mehr als zwei Jahren des unermüdlichen Einsatzes der freiwilligen Helfer »ist der Kampf vorbei«

von Sabine Brandes  24.11.2025

Meinung

Der Weg zum Frieden in Nahost führt über Riad

Donald Trump sieht in Saudi-Arabien zunehmend einen privilegierten Partner der USA. Die Israelis müssen gemäß dieser neuen Realität handeln, wenn sie ein Abkommen mit dem mächtigen Ölstaat schließen wollen

von Joshua Schultheis  24.11.2025

Portrait

Die Frau, die das Grauen dokumentieren will

Kurz nach dem 7. Oktober 2023 gründete die israelische Juristin Cochav Elkayam-Levy eine Organisation, die die Verbrechen der Hamas an Frauen und Familien dokumentiert. Unser Redakteur sprach mit ihr über ihre Arbeit und ihren Frust über die Vereinten Nationen

von Michael Thaidigsmann  24.11.2025

Sderot

Zweitägiges iranisches Filmfestival beginnt in Israel

Trotz politischer Spannungen will das Event einen Dialog zwischen Israelis und Iranern anstoßen

von Sara Lemel  24.11.2025