Angriff auf Israel

»Wir werden weiterleben!«

Andrea Kiewel in Jaffa (Archivfoto) Foto: picture alliance / dpa

Nina hüpft aus dem Wasser und versucht, den Ball zu fangen. Es ist 9 Uhr heute Morgen. Wir sind beinahe die Ersten im Schwimmbad. Nur ein paar Seniorinnen planschen schon im lauwarmen Wasser. Sie ermahnen Nina und mich, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Ihre Haare dürfen nicht nass werden.

Nina springt und jubelt. Sie weiß nicht, dass wir zehn Stunden zuvor so besorgt waren, wie noch nie in unserem Leben. Sie weiß nicht, dass wir um unser Leben bangten. Sie weiß nicht, dass eine Armee, ein ganzes Land wachsam und in höchster Alarmbereitschaft war, um uns zu beschützen. Nina ist sechseinhalb Jahre alt und die jüngste der drei Töchter meines Freundes. Sie hat die Nacht verschlafen. Als sie ihren Vater um 6 Uhr in der Früh rief, waren wir gerade zu Bett gegangen. Wir hatten gerade beschlossen, dass wir heute nicht sterben werden.

Als sich gestern Abend das Nachrichten-Karussell zu drehen begann, als eine Hiobsbotschaft die nächste jagte, verlor ich jede Hoffnung. Ich bin wirklich nicht wehleidig. Und ich hatte mich seit Tagen auf wunderbare Weise selbst manipuliert, indem ich meine Freunde manipulierte: »Stimmt’s, vielleicht wird der Iran uns doch nicht beschießen?«, »Auf jeden Fall wird dieser Angriff unser Land nicht komplett in Schutt und Asche zerlegen, nein?«, »Mit Sicherheit gibt es keinen Atomkrieg, nicht wahr?« Geschlossene Fragen zu stellen, ist ein profanes Mittel, um genau die Antwort zu bekommen, die man hören will. Ich bin Weltmeisterin darin.

»Seine Kinder dürfen auf keinen Fall spüren, dass ich vor Angst zittere«

Es ist meine Überlebensstrategie seit dem 7. Oktober 2023. Seit sechs Monaten und sechs Tagen belüge ich mich selbst, um den Schmerz, die Trauer und vor allem die Angst auszuhalten. Ja. Ich habe Angst. Angst vor den Sirenen. Angst vor dem Bumm von »Iron Dome«. Ich habe Angst davor, hier in Israel bei einem Raketenangriff zu sterben.

Ich sitze neben meinem Freund auf dem Sofa und frage alle drei Sekunden: »Was sagen sie? Was sagen sie?« Er schaut die Nachrichten auf Channel 13. Ich verstehe kein Wort und versuche, anhand seiner Mimik und Gestik abzulesen, wie schlimm es wird. Sehr, sehr, sehr schlimm. Er steht auf, zieht die Armeeschuhe an, die er trug, als er in Gaza gegen die Hamas-Terroristen kämpfte, holt eine große Tasche und sagt mit leiser Stimme: »Komm. Lass uns Sachen und Wasser und Taschenlampen einpacken. Für zwei Tage. Oder besser für drei.« Um uns herum sind seine Kinder. Sechseinhalb, elf und 14 Jahre alt. Auf keinen Fall dürfen sie spüren, dass ich vor Angst zittere. Mein Handy hört nicht auf zu vibrieren. So viele besorgte Nachrichten. Von Freunden in Israel und von Freunden in Deutschland.

Und dann warten wir. Ich laufe ins Bad, um heimlich zu weinen. Und wieder zurück aufs Sofa. Ich schaue mit dem ältesten Mädchen »Stolz und Vorurteil«. Besser gesagt, ich versuche zu schauen. Denn ich bin mehr damit beschäftigt, meinen Freund zu beobachten und herauszufinden, ob es für uns noch ein Morgen geben wird. Der Schutzraum im Keller unseres Hauses ist fürchterlich gruselig. Aber wenigstens gibt es ihn. Ich hatte vorsorglich eine Besichtigungstour mit den Mädchen veranstaltet, damit der Schock nicht allzu groß sein wird, wenn wir bei Sirenengeheul fünf Stockwerke nach unten rennen müssen, um uns in Sicherheit zu bringen.

»Um fünf Uhr steht fest, dass wir weiterleben werden«

Irgendwann in den frühen Morgenstunden bin ich so erschöpft, dass ich mich komplett angezogen auf mein Bett lege. Nur für ein paar Minuten, denke ich. Da weiß ich schon, dass der Iran Drohnen und Raketen auf Israel abgeschossen hat. Der Nachthimmel über Tel Aviv brummt und grollt. Flugzeugmotoren. Überall. Die israelische Airforce beschützt uns. Und Iron Dome. Und Arrow 3. Und Amerika, Großbritannien und Jordanien.

Um fünf Uhr in der Früh steht fest, dass wir weiterleben werden. Ich weine mich in den Schlaf. Mein Freund hält mich fest. So lange, bis ihn seine jüngste Tochter ruft. Es ist sechs Uhr morgens.

Ich schreibe meinem lieben Freund Tom Franz. »Lieber Tom. Es hört gar nicht mehr auf. Hat uns Gott vergessen?« Tom antwortet umgehend: »Ich habe das Gefühl, dass Haschem mit uns ist. Ohne Haschem sähe es ganz anders aus.« Mehr als 300 Drohnen und Raketen feuerte der Iran heute Nacht auf Israel ab. Seit November 2023 hat der Iran den Vorsitz des Sozialforums des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen. Ich möchte schreien ...

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