Krieg

Wie weiter in Gaza?

Blick auf die Zeltstadt entlang der Küste von Gaza-Stadt (24. August 2025) Foto: picture alliance / Anadolu

Es wäre ein in jeglicher Hinsicht enormes Unternehmen und hätte weitreichende Folgen auch für die israelische Gesellschaft. Darüber sind sich Befürworter und Kritiker einer israelischen Besetzung von Teilen des Gazastreifens gleichermaßen einig. Die temporäre militärische Übernahme von Gaza-Stadt in der palästinensischen Enklave wurde Anfang August vom Kabinett beschlossen.

Der Plan der Koalition zielt darauf ab, die Hamas endgültig zu vernichten und die verbliebenen Reste der Terrororganisation massiv unter Druck zu setzen, damit die 50 Geiseln freigelassen werden, die sich weiterhin in ihrer Gewalt befinden – 20 von ihnen sollen noch am Leben sein. Viele Geiselfamilien sind deshalb in großer Sorge und verweisen auf Warnungen der Führung der israelischen Armee (IDF), dass ihre Angehörigen dadurch in große Gefahr geraten.

Humanitäre Zone

Der von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unterstützte Gaza-Besatzungsplan soll Berichten zufolge mit der Einnahme von Gaza-Stadt im Norden des Gebiets sowie von Lagern im zentralen Gazastreifen beginnen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung der Enklave soll sich dann in der humanitären Zone Mawasi befinden.

Einer der schärfsten Kritiker des Vorhabens: die israelische Armee unter Generalstabschef Eyal Zamir. Israelischen Medienberichten zufolge warnte er, dass »die Besetzung des Gazastreifens Israel in ein schwarzes Loch zieht. Man wäre dadurch verantwortlich für zwei Millionen Palästinenser, die Gefährdung von Soldaten durch Guerillakämpfe und, was am allerschlimmsten ist, die Gefährdung der Geiseln«.

Militärvertreter gehen davon aus, dass die Umsetzung der Regierungspläne zur Besetzung zu schweren Verlusten unter den israelischen Truppen führen wird, berichtet der öffentlich-rechtliche Sender Kan. Bei der militärischen Operation könnten Dutzende Soldaten getötet und viele mehr verletzt werden.

Die Sicherheitsexperten Yossi Kuperwasser und Kobi Michael vom Institut für Nationale Sicherheit INSS bewerten die Lage folgendermaßen: »Obwohl die Fähigkeiten der Hamas erheblich beeinträchtigt wurden, sind die Kriegsziele noch nicht erreicht. Die Hamas tritt in weiten Teilen des Gazastreifens immer noch sowohl zivil als auch militärisch als die alles kontrollierende Macht auf. Obwohl diese Gebiete geografisch nicht sonderlich groß sind, liegt ihre Bedeutung in ihrem symbolischen Wert und ihrem Rang als dicht besiedelte Hochburg der Organisation.«

Zivile Kontrolle

Beide sprechen eine deutliche Warnung aus. »Die angebliche Bereitschaft der Hamas, die zivile Kontrolle an die Palästinensische Autonomiebehörde oder an ein Gremium von Technokraten zu übertragen, ist irreführend, solange sie sich weigert, die Waffen vollständig abzugeben.«

Ofer Gutman, Mitglied des INSS und Experte für Palästinenserangelegenheiten, sieht das ähnlich. »Die Hamas erklärt seit Monaten, dass sie bereit sei, die Macht abzugeben, wenn es eine legitime arabische Alternative gibt. Allerdings ist klar, dass sie dennoch versuchen würde, die Kontrolle zumindest teilweise zu behalten.« Gutman sieht jedoch in einer Besetzung des Gazastreifens aus strategischen Gründen den falschen Schritt. »Solange Israel keine Vision für den ›Tag danach‹ hat, wird die Macht der Hamas als Ideologie erhalten bleiben – mit oder ohne Besetzung.«

Zudem seien die Kosten einer Übernahme der Palästinenser-Enklave enorm hoch: Nach Schätzungen der Armee würde sich eine militärische Präsenz auf rund 6,5 Milliarden Euro pro Jahr summieren, der Wiederaufbau Gazas würde mit mindestens 15 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Die Finanzierung des täglichen Lebens der Menschen, für die Israel dann laut Völkerrecht verantwortlich wäre, würde weitere fünf – nach manchen Schätzungen sogar 25 – Milliarden Euro im Jahr kosten.

Laut Meinungsumfragen will eine klare Mehrheit der Israelis ein Ende des Krieges.

Israel wäre kaum in der Lage, dies finanziell zu stemmen. »Diese Summen entsprechen einem riesigen Teil des israelischen Haushalts und hätten katastrophale Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft«, so Gutman. Das einzige Land, das im Fall einer israelischen Besetzung Geld geben würde, wäre Katar. »Doch dort will man, dass die Hamas an der Macht bleibt – eine völlig absurde Situation!«

Dabei gebe es eine echte Alternative, so Gutman. »Und zwar den ägyptischen Plan. Eigentlich ist es ein traumhaftes Szenario, denn dieser erkennt Israels Sicherheitsbedürfnisse und die Notwendigkeit an, dass die Hamas nicht an der Macht bleiben darf.« Der Experte ist überzeugt, dass dieser Plan sich sogar noch stärker an israelischen Bedürfnissen orientieren würde, wenn sich Israel für einen solchen Deal entscheidet.

Stabilisierung der Situation

»Damit könnte erreicht werden, was wir so dringend brauchen – eine Stabilisierung der Situation mit Gaza.« Neben den Kosten geht es auch um die Moral in der Gesellschaft. Diese sinkt sowohl in der Zivilbevölkerung als auch in der Armee, vor allem unter Reservisten, die nach teilweise Hunderten Tagen Armeedienst psychisch und physisch erschöpft sind. Zudem werden die Proteste, die ein Ende des Krieges fordern, immer häufiger und größer.

Gayil Talshir, Professorin für Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität, hebt hervor, dass die israelische Bevölkerung zwar sehr gespalten sei, sich nach jüngsten Umfragen jedoch etwa 76 Prozent aller Israelis für ein Ende des Krieges in Gaza aussprechen. »Also geht es hier nicht um eine Entscheidung fifty-fifty. Es ist eine klare Mehrheit, die keine Besetzung will.«

»Es geht bei diesem Krieg mittlerweile nur noch um Ideologie«, ist Talshir überzeugt. Fest macht sie das auch daran, dass 40 bis 50 Prozent der Reservisten nicht in den Dienst zurückkehren, auch wenn sie dazu aufgefordert werden. »Meine Studenten sagen mir, sie wissen, es hat nichts mehr mit der Sicherheit Israels zu tun, sondern es geht nur noch darum, dass die Regierung ihre Macht erhalten will.« Immer weniger Soldaten wollten dafür ihr Leben riskieren.

Allerdings ist die Politologin ebenfalls überzeugt davon, dass weder die Stimmung unter den Reservisten noch die Massenproteste etwas an den Entscheidungen der Regierung ändern werden. »Das Einzige, was den Krieg aktuell beenden kann, ist ein Machtwort von US-Präsident Donald Trump.« Doch dessen ebenso oft widersprüchliche wie erratische Nahost-Politik ist hinlänglich bekannt – keine guten Voraussetzungen also für eine durchdachte Strategie, die Geiseln freizubekommen, die Hamas zu entwaffnen und den Palästinensern in Gaza künftig ein Leben in Frieden und Freiheit zu ermöglichen.

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