Justiz

Wer hat das letzte Wort?

Zum ersten Mal in der Geschichte Israels kamen alle 15 Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofs zusammen und hörten die Beschwerden gegen die Abschaffung der Angemessenheitsklausel. Foto: Flash 90

Ein Urteil hat der Oberste Gerichtshof in Israel noch nicht gefällt, aber seinen Standpunkt zum ersten Gesetz der umstrittenen Justizreform unmissverständlich klargemacht. Die meisten Richter äußerten während der über 13 Stunden langen Anhörung scharfe Kritik an dem Koalitionsgesetz vom 24. Juli zur Abschaffung des Angemessenheitsstandards.

Mit der Abschaffung der Angemessenheitsklausel wird die gerichtliche Kontrolle der Regierung erheblich beschränkt, wenn gewählte Beamte willkürliche, extreme oder durch Korruption entstandene Entscheidungen treffen.

argumente Das Oberste Gericht war am Dienstag erstmals in der Geschichte Israels mit allen 15 Richterinnen und Richtern in Jerusalem zusammengekommen, um Argumente gegen den Versuch der Regierung zu hören, die Befugnisse der Justiz stark einzuschränken. Wegen der angespannten politischen Lage wurden den Richtern besondere Sicherheitsvorkehrungen zuteil.

Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut, gab allen Beteiligten 21 Tage Zeit, um ihre Argumente schriftlich in einer Länge von bis zu zehn Seiten darzulegen. Eine endgültige Entscheidung wird erst in Wochen oder gar Monaten erwartet.

Es ist ebenso das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass Teile des Grundgesetzes, die in Ermangelung einer schriftlichen Verfassung quasi als deren Ersatz gelten, auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden. In der Folge könnten die Richter mit ihrem Urteil eine Verfassungskrise auslösen, wenn sie sich tatsächlich entscheiden, die Gesetzesänderung der Regierung niederzuschlagen.

koalition Einige Rechtsaußen-Minister der Koalition haben bereits kundgetan, dass sie nicht gedenken, sich an ein Urteil des Gerichtshofes zu halten. Andere betonten, dass die Regierung sehr wohl auf die Richter hören müsse, beispielsweise Verteidigungsminister Yoav Gallant (Likud). Premierminister Benjamin Netanjahu hat bislang eine klare Antwort auf diese Frage vermieden.

Gerichtspräsidentin Hayut wies darauf hin, dass der sogenannte Angemessenheitsstandard seit Jahrzehnten besteht. An den gerichtlichen Vertreter der Regierung, den Rechtsanwalt Ilan Bombach, gewandt, sagte sie: »Es gibt Tausende Entscheidungen von Ministern, die sich auf das tägliche Leben der Bürger auswirken und unangemessen sind. Meistens greifen wir nicht ein, doch manchmal gibt es einen Grund dafür. Aber heute hindert das Gesetz jedes Gericht im Land daran, diese Fälle überhaupt anzuhören.«

»Die Demokratie stirbt nicht durch schwere Schläge, sie stirbt in kleinen Schritten.«

Richter Isaac Amit

Am 24. Juli war der erste Teil der Justizreform trotz massiver Kritik in der Knesset verabschiedet worden. »Die Demokratie stirbt nicht nur durch ein paar schwere Schläge. Sie stirbt in kleinen Schritten«, kommentierte Richter Isaac Amit.

kontrollmechanismen Die Beschwerdeführer argumentieren, dass die Gesetzesänderung wichtige demokratische Kontrollmechanismen der Regierung aushebelt und der Korruption Tür und Tor öffnet. Sie meinen auch, dass der schnelle Gesetzgebungsprozess fehlerhaft gewesen sei. Die Regierung indes beharrt darauf, dass der Oberste Gerichtshof gar nicht die Autorität besitze, in Grundgesetze einzugreifen, und die Justizreform die Demokratie nicht gefährde.

Doch während sie das Gesetz kritisierten und vor den schwerwiegenden Folgen warnten, stellten die Obersten Richter den Antragstellern auch scharfe Fragen. Eine stand dabei besonders im Raum: ob das Gericht zum ersten Mal überhaupt ein Grundgesetz aufheben solle – auch wenn es die Grundwerte Israels als jüdischer und demokratischer Staat untergräbt.

Einer der Initiatoren der Justizreform, der Vorsitzende des Rechtskomitees der Knesset, Simcha Rothman von der rechtsextremen Partei Religiöser Zionismus, forderte die Richter diesbezüglich heraus: »Welche Rechtfertigung gibt es, dem Staat Israel die grundlegenden Eigenschaften als demokratischer Staat zu nehmen, seine freien Wahlen, die Fähigkeit der Öffentlichkeit, ihre Meinung zu äußern und Gesetze zu ändern, die ihr Leben bestimmen?«

wahlen Richterin Anat Baron konterte und fragte: »Was wäre, wenn die Knesset sagen würde, Wahlen finden nur alle zehn Jahre statt, Araber haben kein Wahlrecht oder dass es verboten ist, am Schabbat zu reisen? Wer wird dann feststellen, ob das extremistisch ist oder nicht?« Rothman antwortete: »Wenn wir einen Fehler machen, können wir ihn korrigieren. Und wenn nicht, können wir über die Wahlurne ersetzt werden.«

Die extrem rechts-religiöse Koalition Netanjahus hatte im Januar bereits die Justizreform in Gang gesetzt, die beispiellose Proteste im ganzen Land auslöste, Investoren verschreckte und die Landeswährung Schekel in einen Abwärtstrend versetzte.

Rechtsanwalt Aner Helman, der Vertreter der Generalstaatsanwältin, die sich weigerte, für die Regierung zu plädieren, und die stattdessen auf der anderen Seite steht, führte dazu aus: »Die Regierung könnte beispielsweise Wahlen durch reguläre Mehrheitsentscheidungen verschieben und Klauseln aufheben, die eine relative Mehrheit erfordern.

Die Geschichte lehrt, dass die Aussage, ›absolute Macht korrumpiert absolut‹, ein Axiom ist.« An die Vertreter der Regierung gewandt, fügte er hinzu: »Wenn Sie uns sagen: ›Vertrauen Sie uns, die Knesset ist die Kontrollaufsicht‹, dann müssen wir alle sehr, sehr vorsichtig sein.«

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