Der Oberste Gerichtshof Israels hat ein wegweisendes Urteil gefällt, das Justizminister Yariv Levin (Likud) mehr Macht einräumt. Der Architekt der kontroversen »Justizreform« erhält damit weitreichende Befugnisse bei strafrechtlichen Ermittlungen. Die Entscheidung der Richter bezieht sich auf den Fall der Untersuchung von mutmaßlichen Misshandlungen palästinensischer Gefangener in der militärischen Gefängniseinrichtung Sde Teiman.
Hintergrund des Urteils ist ein Skandal, der Israel in den letzten Monaten erschütterte. In dem Militärlager sollen Reservisten der Einheit »Force 100« angeblich Häftlinge geschlagen haben, während diese gefesselt und ihnen die Augen verbunden waren. Berichte sprechen von gebrochenen Rippen, inneren Verletzungen und schweren Fesselverletzungen. In einem besonders schweren Fall lautet die Anklage auf sexuelle Gewalt und Missbrauch.
Ein zentrales Element des Skandals um Sde Teiman war ein Video, das mutmaßliche Gewalt dokumentierte. Dieses Video wurde an Medien geleakt, was schließlich zum Rücktritt der Militär-Generalanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi führte. Sie erklärte, sie habe die Freigabe autorisiert, um »falscher Propaganda« entgegenzutreten und zu zeigen, dass sich Israel auch in schwierigen Fällen an Gesetze hält.
Haftbedingungen in Sde Teiman seien »hart«
Der Oberste Gerichtshof hatte zuvor diesbezüglich betont, dass die »Einhaltung von Gesetzen auch in militärischen Konflikten oberste Priorität« habe. Ein internes Gremium unter dem früherem Richter Ilan Schiff bezeichnete die Haftbedingungen in Sde Teiman als »hart« und empfahl, Gefangene schneller in zivile Haftanstalten zu verlegen.
Doch die Enthüllungen führten zu politischen Spannungen und Ausschreitungen von Rechtextremen vor der Gefängnisanstalt und den Gerichten. Darunter waren auch Mitglieder der Koalition. Regierungspolitiker kritisierten das Vorgehen der Militärjustiz, während Menschenrechtsgruppen stärkere unabhängige Kontrollen forderten.
Die Ermittlungen gegen fünf verdächtige Reservisten laufen weiter, einige befinden sich noch unter Hausarrest. Tomer-Yerushalmi steht währenddessen unter massivem Druck. Nach Angaben in israelischen Medien versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Derzeit ist sie ich im Krankenhaus. Ihr Status in den laufenden Ermittlungen ist unklar.
Daphne Barak-Erez: »Wenn Minister Ermittler außerhalb der Generalstaatsanwaltschaft ernennen dürfen, verschiebt sich das Gleichgewicht der Gewalten der Demokratie.«
In dem jüngsten Urteil hob der Gerichtshof die Ernennung des pensionierten Richters Asher Kula auf, den Levin eingesetzt hatte. Gleichzeitig bestätigte er jedoch, dass der Minister unter Auflagen eine alternative, unabhängige Person ernennen darf. Das Urteil stellt somit eine historische Abweichung von bisheriger Praxis dar, indem es einem Politiker erlaubt, die Leitung einer strafrechtlichen Untersuchung außerhalb der Generalstaatsanwaltschaft zu bestimmen. Richter Alex Stein betonte, die Person müsse vollständig unabhängig sein, was signalisiert, dass künftige Nominierungen genau geprüft werden.
Rechtsanwalt Zion Amir, der Levin vertrat, erklärte daraufhin: »Das Gericht gab den meisten Argumenten des Ministers statt und urteilte, dass er im Rahmen seiner Befugnisse handelte, indem er einen Ermittler außerhalb der Staatsanwaltschaft einsetzte.«
Hochrangige Justizbeamte warnen jetzt, dass diese Entscheidung die Tür für eine Politisierung der Strafverfolgung öffnen könnte. Kritiker fürchten auch, dass die Regierung den Präzedenzfall nutzen könnte, um die Generalstaatsanwaltschaft in politisch heiklen Fällen zu umgehen. Die rechts-religiöse Koalition unter Premierminister Benjamin Netanjahu hat bereits mehrfach versucht, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara abzusetzen, scheiterte jedoch jedes Mal durch die Intervention des Obersten Gerichtshofs.
Koalition hat versucht, die Generalstaatsanwältin abzusetzen
Zwar legten die Richter klare Kriterien für einen Kandidaten von Levin fest – er muss ein erfahrener Beamter im Strafrecht sein, frei von politischem Einfluss und persönlichen Interessen – und doch schlagen Rechtsexperten Alarm. Denn durch das Urteil könnte die Macht der Generalstaatsanwaltschaft weiter unterminiert werden. Viele regierungskritische Israelis sehen die Generalstaatsanwältin Baharav-Miara mittlerweile als eine »Wächterin der Demokratie« an.
Auch Daphne Barak-Erez, Verfassungsrechtlerin an der Hebräischen Universität, sieht in dem Entscheid einen Wendepunkt für das institutionelle Gleichgewicht des Landes: »Wenn Minister die Befugnis erhalten, Ermittler außerhalb der Generalstaatsanwaltschaft zu ernennen, verschiebt sich das Gleichgewicht der Gewalten der Demokratie. Es ist ein Präzedenzfall, der die richterliche Unabhängigkeit schwächt.«
Das Urteil wird in Israel auch deshalb als so bedeutsam angesehen, weil es die Rolle des Justizministers in sensiblen Ermittlungen stärkt und damit Bedenken hinsichtlich der generellen Unabhängigkeit der Justiz weckt. Der Rechtsexperte Amnon Rubenstein erklärt: »Dieses Urteil könnte eine gefährliche Tür öffnen. Ein Justizminister kann nun Einfluss auf die Ermittlungsführung nehmen, wo früher die Generalstaatsanwaltschaft unabhängige Kontrolle hatte.«
Darüber hinaus zeigt der Fall Sde Teiman exemplarisch, wie eng politische Macht und rechtliche Kontrolle in Israel miteinander verknüpft sind. Das neue Urteil verschafft Levin nun die Möglichkeit, sensible Ermittlungen zu beeinflussen. Damit wirft es auch Fragen nach der Unabhängigkeit der Strafverfolgung sowie der Stabilität der israelischen Demokratie auf. Denn das Geschehen spielt sich vor den Versuchen von Levin ab, die israelische Justiz umzuwälzen. Vor allem will er die Ernennung von Richtern und Ermittlern politischer machen.
Koalitionspolitiker begrüßen das Urteil
Levin selbst begrüßte das Urteil. Außenminister Gideon Sa’ar, auch er vom Likud, nannte es »dramatisch und wichtig« und würdigte den erweiterten Handlungsspielraum des Justizministers. Auch der ehemalige leitende Staatsanwalt Moshe Saada lobte die Entscheidung der Richter als »wichtigen Schritt, um die Macht der gewählten Amtsträger zu stärken«.
Amir Fuchs, ehemaliger Richter am Bezirksgericht, sieht allerdings gerade darin ein Problem für eine Demokratie: »In Zukunft könnte jeder politisch sensible Fall unter dem Vorwand eines Interessenkonflikts dem Minister unterstellt werden. Das Urteil zeigt, wie die Justizreform der Regierung den Schutz vor politischem Einfluss aushöhlt.«