Reportage

Unter Beschuss

Wenn die Raketen kommen und die Sirenen heulen, bleiben Ruth Friedmann 20, vielleicht 30 Sekunden. Eine halbe Minute, um alles stehen und liegen zu lassen, in den nächsten Bunker zu hasten, sich zu verkriechen. Eine halbe Minute, die über Leben und Tod entscheiden kann. »Aber Losrennen würde nichts mehr bringen«, sagt die 82-Jährige. »In meinem Alter schaffe ich es ja doch nicht rechtzeitig in den nächsten Schutzraum. Also bleibe ich einfach in meiner Küche sitzen und hoffe.«

berlin Seit 66 Jahren lebt die gebürtige Berlinerin in Dorot, einem kleinen Kibbuz im Süden Israels. Palmen und Obstbäume wachsen hier, Kinder planschen in Swimmingpools. Eine heile Welt, wäre da nicht der Raketenterror der Hamas. Dorot liegt nur 15 Kilometer vom Gazastreifen entfernt, immer wieder schlagen Raketen im Umland ein, explodieren. »Natürlich machen mir die Detonationen und Rauchwolken Angst. Aber wir leben unser Leben hier trotzdem weiter«, sagt Ruth Friedmann.

Weiterleben, irgendwie. Die deutsche Jüdin kennt das. Sie ist noch ein Kind, da werden ihre Eltern von den Nazis deportiert und ermordet. »Ich versteckte mich mit meinen kleinen Geschwistern in einem Wandschrank in unserer Berliner Wohnung. Schließlich wurden wir aber doch entdeckt und verhaftet.« Die damals Zwölfjährige muss gemeinsam mit ihren Geschwistern Zwangsarbeit leisten – Häuser enttrümmern, Steine schlagen. »Wir hatten Glück, wir waren blond und hatten blaue Augen. Deswegen haben uns die Nazis nicht direkt erschossen.«

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges emigriert Ruth Friedmann nach Israel. »Da stand ich dann, mit gerade einmal 16 Jahren. An einer Hand hielt ich meinen kleinen Bruder, an der anderen Hand meine kleine Schwester. Wir mussten uns ein neues Leben aufbauen, ohne Eltern und Verwandte.«

kibbuz Die drei landen im Kibbuz Dorot, der 1941 von deutschen Juden gegründet wurde. Deutsch sprechen dürfen die Kinder hier trotzdem nicht, die »Sprache der Täter« ist verboten. »Natürlich hat das geholfen, schneller Hebräisch zu lernen«, sagt Ruth Friedmann. »Aber meine Heimatsprache hat mir sehr gefehlt.«

Doch das ist nicht die einzige Umstellung: Die Bewohner träumen von einer besseren Welt mit gemeinschaftlichen Prinzipien, nach denen alle Mitglieder miteinander teilen, was sie produzieren. Im Kibbuz gibt es kein Geld, jeder arbeitet unentgeltlich. Dafür werden alle Entscheidungen gemeinsam getroffen, Wohnungen, Kleidung, Verpflegung kostenlos gestellt. Ruth Friedmann: »Ich kam mit den Kibbuz-Regeln sehr gut klar. Aber dass meine Kinder nicht bei mir, sondern in einer großen Gruppe in der Schule übernachten mussten und ich sie nur drei Stunden am Tag sehen durfte, ist mir als Mutter doch sehr schwergefallen.«

Heute hat sich das Leben in Dorot stark gewandelt, Vorschriften wurden aufgeweicht. Und irgendwann begann der Beschuss aus dem Gazastreifen. »Die Terroristen hassen uns, sie werden nie akzeptieren, dass wir hier sind«, ist sich Ruth Friedmann sicher. »Wie soll man mit diesen Menschen einen Frieden schließen?«

Ans Weggehen hat die alte Dame trotzdem nie gedacht. »Trotz allem, was passiert ist: Ich bin glücklich! Ich habe zwei Geschwister, drei gesunde Kinder und neun Enkel. Dieses Glück lasse ich mir von keinem Terroristen zerstören!«

Maximilian Kiewel

***

Zwölf Jahre lebte Amit in Kfar Aza, einem kleinen Dorf zweieinhalb Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Täglich gab es Sirenengeheul und Beschuss. Wenn der Alarm ertönte, hatte Amit drei Sekunden oder fünf, ab und zu schlugen Raketen auch ohne Alarm ein. Weil das Dorf so nahe bei Gaza liegt, hatten die Bewohner meist nicht genug Zeit, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Vor zwei Wochen wurde Amits Haus von einer Kassam getroffen. Jetzt ist die Kindergärtnerin ein Flüchtling im eigenen Land.

schutzraum 2008 baute die Regierung in fast jedem Haus in Kfar Aza einen Schutzraum. Das rettete Amit das Leben. »Ich hatte Glück und vor allen Dingen genug Zeit«, sagt sie. Der Vater ihres besten Freundes hatte beides vor sechs Jahren nicht. Er wurde damals bei einem Angriff von einer Rakete getötet. »Wir waren zusammen im Garten und haben uns unterhalten, als der Alarm ertönte. Jimmy hat uns zugerufen, dass wir uns schnell ins Haus begeben sollen. Wir sind sofort losgerannt«, erinnert sich die junge Frau. »Nach drei Sekunden hörten wir einen lauten Einschlag. Wir drehten uns um und sahen ihn am Boden liegend. Die Rakete schlug einen halben Meter neben ihm ein. Er war sofort tot.«

Vor einer Woche hat Amit mit ihren Eltern und der kleinen Schwester beschlossen, dass es zu viel ist. Zu viele Raketen, zu viel Flucht, zu viel Anspannung. Seit die israelische Operation »Säule der Verteidigung« begann, hat die Hamas ununterbrochen Raketen auf das Dorf gefeuert.

flucht Amits Familie ist bei Familienmitgliedern in Herzliya nördlich von Tel Aviv untergekommen. »Es ist nicht normal, dein eigenes Haus zu verlassen und da vonzurennen. Ich stand da und packte Klamotten ein. Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich mitnehmen soll, weil ich nicht weiß, wann ich wieder zurückkommen werde. Es fühlt sich an, als habe ich kein Zuhause mehr.«

»Ich glaube an Dialog und ich glaube an Frieden«, sagt Amit. »Aber ich will nicht mehr das Opfer sein, wenn das nicht funktioniert.«

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