Raketen

Sirenen über Nachlaot

Marco Limberg am Wochenende in Jerusalem Foto: Naomi Grebmil

Es ist sieben Uhr früh. In meinem Kopf heult eine Sirene. Ich weiß nicht genau, ob ich träume. Doch die Sirene ist ganz real, sie weckt mich. Ich bin in Jerusalem, in meinem Bett, in einer kleinen Wohnung aus massivem Stein im Stadtteil Nachlaot. Kurz überlege ich, was die Sirene bedeutet, dann höre ich einen Knall. Mir wird klar, das ist der Ernstfall – Raketenalarm. Der »Iron Dome« hat ein Geschoss abgefangen. Ich greife zu meinem Telefon, checke die News. Die ersten schrecklichen Bilder sind zu sehen, Terroristen, die hilflose Zivilisten abschlachten.

Wut und Trauer erfüllen mich, gestern noch war ich in der Altstadt, bin durchs arabische Viertel zur Kotel gelaufen. Es war ein friedliches Bild, das ich sah: Juden, die durch die Gassen eilten, im Getümmel zwischen Arabern und Touristen. Kein Anzeichen einer Anspannung war spürbar. An der Kotel begannen die ersten Gruppen, mit der Tora zu Simchat Tora zu singen und zu tanzen.

IRon DOME In meiner Wohnung höre ich das zweite Mal die Sirene, gefolgt von einem dumpfen Knall des Iron Dome. Was muss ich tun, woher bekomme ich Informationen? Meine Red-Alert-App zeigt mir im Sekundentakt Raketeneinschläge. Ich google »Jerusalem Bomb Shelter Map«, und mir wird ein Schutzraum in zwei Minuten Entfernung angezeigt. Zwei Minuten Weg sind zu viel, um den Raum zu erreichen, auch hier in Jerusalem. Ich lerne, dass der Ton der Sirene so lange anhält, wie die Rakete bis zu ihrem Ziel fliegt, bis nach Jerusalem sind es 90 Sekunden.

Jemand hämmert gegen meine Tür. Ich springe aus dem Bett, schaue vorsichtig durch einen Spalt, um zu sehen, wer es ist. Zwei Mitglieder einer israelischen Spezialeinheit. Sie fragen mich, ob alles in Ordnung ist, und ich frage, ob ich zum Schutzraum gehen soll. Sie werfen einen Blick in die Wohnung und meinen, das Haus sei sehr massiv, ich soll, wenn ich die Sirene höre, unter den Bogen des Durchgangs zur Küche gehen. Verlassen sollte ich die Wohnung aber nicht, sagen sie. Ihre eigentliche Aufgabe ist es aber, orthodoxe Juden zu warnen und sie zu bitten, das Radio einzuschalten. Es ist Schabbat, doch das Rabbinat in Jerusalem hat die Schabbat­ruhe aufgehoben.

Als ich Stunden später vor der Haustür stehe, fragt mich dann tatsächlich ein Mann im Tallit, warum die Sirene zu hören gewesen sei. Als ich ihm erkläre, dass Israel angegriffen wird, will er wissen, ob es Opfer gibt, für die er beten kann.

Der nächste Alarm beginnt. Nachdem die Sirene endet, höre ich die lauten Gesänge und die Gebete aus der jemenitischen Synagoge über meiner Wohnung, die mich in den Tagen zuvor immer früh am Morgen aus dem Schlaf gerissen haben. Die Gemeinde betet unaufhörlich, stundenlang.

Die jemenitische Synagoge in NachlaotFoto: Naomi Grebmil

Ich lese die Nachrichten, und mir wird klar, dass heute, auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Beginn des Jom-Kippur-Krieges, erneut ein Krieg beginnt. Meine eigenen Sorgen und Probleme kommen mir auf einmal ganz klein vor. Ich will am folgenden Tag zurück nach Deutschland fliegen – wird das möglich sein? Auf der Homepage des Ben-Gurion-Flughafens sehe ich, wie immer mehr Fluglinien ihre Flüge canceln.

Inzwischen ist früher Nachmittag, ich muss hinaus an die frische Luft und ignoriere die Ratschläge der Sicherheitsleute. Mir begegnen einige orthodoxe Juden, wir grüßen uns mit »Chag Sameach« oder »Schabbat Schalom«, und einer bietet mir spontan einen Becher Cola an. Dann höre ich lauten Gesang und folge dem Geräusch. Auf der Hauptstraße hat sich eine Gruppe versammelt, die mit der Torarolle tanzt und Simchat Tora feiert. »Od Avinu Chai« und »Am Israel Chai« singen sie. Plötzlich kommt einer der Tänzer mit der Tora auf mich zu, gibt mir die Rolle in die Hand, und ich tanze im Kreis der Männer.

Drei Polizisten sichern die Gruppe. Auch sie werden zum Tanz mit der Tora ermuntert, aber sie können die Einladung nicht annehmen, eine flüchtige Berührung muss ausreichen. Bevor sich die Charedim wieder in die Gassen von Nachlaot zurückziehen, umarmen sie die Polizisten und danken ihnen.

Orthodoxe Juden feiern Simchat Tora auf den Straßen von JerusalemFoto: Naomi Grebmil

Ich folge der Gruppe bis zu ihrer Sukka, gehe dann weiter zu meiner Wohnung. Das Ausmaß der Katastrophe wird sichtbar, schreckliche Bilder sind zu sehen. Freunde und Bekannte melden sich, fragen, wie es mir geht. Jeder hat einen anderen Ratschlag. Ich soll sofort zum Flughafen fahren, raus aus Jerusalem. Nein, auf keinen Fall die Stadt verlassen! In der Wohnung bleiben, so lange es geht. Eine Freundin fragt, ob sie mich mit dem Auto holen soll.

Kurz vor Mitternacht höre ich das Dröhnen von Kampfjets der israelischen Luftwaffe auf dem Weg nach Gaza. Ein Bekannter meldet sich, sein Sohn sei bei einem Einsatz von Granatsplittern getroffen worden. Aber er blieb unverletzt. Der Freund neben ihm ist gefallen. Die »Times of Israel« schreibt, dass es in Ost-Jerusalem Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee und Palästinensern gibt. Ich beschließe, am nächsten Tag zum Flughafen aufzubrechen.

Tickets Am Sonntagmorgen ist die Stadt ungewöhnlich still. Der Nahverkehr funktioniert. Menschen wollen mir helfen, sobald ich nur kurz stehen bleibe und aufs Telefon schaue, um zu sehen, ob ich auf der richtigen Straße bin. An einigen Bushaltestellen steigen junge Frauen und Männer in zivile Busse, offenbar auf dem Weg zu ihrer Einheit. Es sind Kinder in meinen Augen.

Der Ben Gurion Airport ist ziemlich leer, keine Gruppen von Menschen, die sich um die letzten Tickets streiten. Ich passiere die Kontrollen schneller als üblich. Mein Flug ist nicht gestrichen worden, EL AL ist die einzige Gesellschaft, die noch fliegt. Ich habe den Eindruck, dass der Pilot schneller startet und zügiger auf Wolkenhöhe steigt als sonst. Ja, heute ist alles anders. Wir fliegen nicht direkt aufs Meer hinaus. Noch lange sehe ich das Land unter mir.

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