Biografie

Streiter für Freiheit

Natan Sharansky hat viel zu tun. So vieles geschieht in der Welt, das es zu kommentieren gilt. Im Februar warnte er gemeinsam mit dem amerikanischen Historiker Gil Troy im US-Magazin »Tablet« vor »Doppeldenkern«: Menschen, die sich aus Furcht vor sozialen Sanktionen selbst zensieren.

Kurz vorher sprach er auf einem virtuellen Diskussionspanel über die schwierige Beziehung zwischen Israel und der jüdischen Diaspora. Im Januar lobte er auf Facebook Marokko, das sich gerade der Bekämpfung von Antisemitismus verpflichtet hatte. Im Dezember sprach er einem Hongkonger Demokratie-Aktivisten seine Solidarität aus. Im November traf er sich in Jerusalem mit einer Delegation vom King Hamad Global Centre for Peaceful Coexistence aus Bahrain. Ähnlich bunt geht es weiter, auf seiner Facebook-Seite und, so scheint es, in seinem Terminkalender.

isolation Der Aktivist, Politiker und Autor Natan Sharansky ist 73 Jahre alt und umtriebig wie eh und je. Er kommentiert, lobt, mischt sich ein. Als Israels Regierung im vergangenen Frühling den ersten landesweiten Lockdown anordnete, verbreitete er per YouTube-Video Tipps für den Umgang mit sozialer Isolation, die sich aus seiner eigenen Erfahrung in sowjetischer Isolationshaft speisen.

Sie lauten, kurz zusammengefasst: Erinnert euch an den höheren Sinn des Opfers, das ihr bringt; konzentriert euch auf Dinge, die ihr kontrollieren könnt; vergesst nicht euren Sinn für Humor; pflegt eure Hobbys; denkt an die Gemeinschaft, zu der ihr gehört. »Wir hatten immer das Gefühl, dass wir Teil eines großen Volkes, eines großartigen Volkes sind«, sagt er in einem Clip. »Ihr seid nicht allein.«

»Vergesst nicht euren Sinn für Humor, pflegt eure Hobbys, denkt an die Gemeinschaft.«

Natan Sharansky auf YouTube

»Nicht allein« – so lautet, ins Deutsche übertragen, auch der Titel seines jüngsten Buches, Never Alone, einer Autobiografie, die er ebenfalls mit Gil Troy geschrieben hat. Er beschreibt einen eindrucksvollen, kurvenreichen Werdegang – der längst noch nicht zu Ende ist.

»REFUSENIK« Unter dem Namen Anatoli Borissowitsch Schtscharanski wurde Natan Sharansky 1948 im ukrainischen Donetsk (damals: Stalino) geboren. Nach seinem Studium der Mathematik in Moskau beantragte er 1973 ein Visum zur Ausreise nach Israel. Die sowjetischen Behörden verweigerten es ihm jedoch unter fadenscheinigen Gründen. »Refuseniki« wurden jene Einwohner der Sowjetunion genannt, denen untersagt wurde, das Land zu verlassen. Oft handelte es sich, wie bei Sharansky, um Juden.

Sharansky wurde zu einem ihrer Anführer. Er setzte sich für ihre Rechte ein, prangerte Menschenrechtsverletzungen des Regimes an und assistierte außerdem dem Physiker, Dissidenten und späteren Friedensnobelpreisträger Andrei Dmitrijewitsch Sacharow als Dolmetscher.

Für seinen Mut zahlte er einen Preis. 1977 ließen die Behörden ihn verhaften, unter anderem wegen Verdachts auf Hochverrat – ein Vorwurf, der mit dem Tod bestraft werden konnte. Sharansky wurde zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Mehrfach musste er die Haftanstalt wechseln, bis er schließlich in einem sibirischen Straflager endete. Einige Jahre verbrachte er in Isolationshaft.

gefangenschaft Auch in Gefangenschaft rebellierte er: Als die Aufseher ihm eine provisorische Chanukkia wegnahmen, trat er in einen mehrtägigen Hungerstreik. Mindestens 35-mal, erzählte er später, hätten die Wärter ihm Nahrung mit Gewalt zugeführt.

»Ich fühlte mich, als würde ich sterben«, berichtete er. Wäre es so weit gekommen, wäre er dazu bereit gewesen: »In meinem ideologischen Kampf für die sowjetischen Juden habe ich die Entscheidung getroffen, dass es wichtigere Dinge gibt als mein physisches Überleben.«

Dass es so weit nicht kam, mag er auch seiner Frau Avital zu verdanken haben, mit der er zwei Töchter hat. Unterstützt von prominenten Fürsprechern startete sie eine Kampagne für seine Befreiung, die schließlich Erfolg hatte: Nach neunjähriger Gefangenschaft wurde Sharansky entlassen. Noch am selben Tag flog er mit seiner Frau nach Israel, wo der damalige israelische Premierminister Schimon Peres die beiden am Flughafen empfing.

EINWANDERER In Israel setzte er seine aktivistische Energie für neue Ziele ein. Er rief das »Zionism Forum« ins Leben, eine Organisation, die Einwanderern die Integration erleichtern soll, und gründete 1995 mit dem heutigen Gesundheitsminister Yuli Edelstein die Partei »Israel BaAlijah«, die sich für die bessere Aufnahme sowjetstämmiger Juden in die Gesellschaft einsetzte. Aus dem Stand errang die Partei 1996 sieben Sitze im Parlament, Sharansky bekleidete in den Folgejahren mehrere Ministerämter.

Die Partei verlor im Laufe der Zeit jedoch an Stimmen, weshalb Sharansky sie 2003 mit dem Likud vereinigte. Er selbst zog sich 2006 aus der Politik zurück. Drei Jahre später wurde er zum Vorsitzenden der Jewish Agency for Israel gewählt, ein Amt, das er bis 2018 innehatte.

Parallel zu seinem Berufsleben kommentierte Sharansky das Zeitgeschehen in Artikeln, Reden und Büchern. Für sein politisches und gesellschaftliches Wirken erhielt er mehrere Preise, darunter die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses und die Presidential Medal of Freedom, die beiden höchsten Auszeichnungen der USA, sowie den Israel-Preis.

Als man ihm in Sibirien eine provisorische Chanukkia wegnahm, trat er in einen Hungerstreik.

genesis-preis 2019 wurde er mit dem Genesis-Preis ausgezeichnet, der jüdische Menschen für besondere Erfolge und den Einsatz für »jüdische Werte« ehrt. Das Preisgeld in Höhe von einer Million US-Dollar nutzte er im vergangenen Jahr, um soziale Initiativen zu unterstützen und einen Wettbewerb für israelische Hightech-Firmen ins Leben zu rufen, die Lösungen im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie entwickeln.

Natan Sharansky hat sich in seinem Leben für vieles eingesetzt, doch drei große Themen bilden den Kern seines Wirkens: der Kampf gegen Antisemitismus, das Bekenntnis zu einem starken jüdischen Staat mit engem Band zur Diaspora und das kompromisslose Streiten für Freiheit und Demokratie.

Er entwickelte 2003 einen Test, legitime Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden, der seinerzeit vom US-Außenministerium übernommen wurde, und sitzt seit 2019 dem Institute for the Study of Global Antisemitism and Policy vor, einer Organisation in den USA, die sich der Erforschung und Bekämpfung von Antisemitismus widmet.

WESTMAUER Seine Leidenschaft für die jüdische Gemeinschaft und für den Staat Israel mag sich auch damit erklären lassen, dass er selbst seine jüdische Identität erst als junger Mann entdeckte. Für ihn ist Identität – das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören und einem höheren Ziel zu dienen – untrennbar mit Freiheit verbunden. »Man kann«, sagte er kürzlich in einem Video-Interview, »nicht das eine aufgeben und das andere behalten.«

Politisch steht Sharansky rechts der Mitte. Mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verbindet ihn nicht nur Freundschaft, sondern auch die Zugehörigkeit zum Likud. Sich deshalb der Parteilinie zu beugen, widerspräche jedoch seinem Charakter. So setzte er sich als Vorsitzender der Jewish Agency dafür ein, dass konservative und Reformgemeinden, denen in den USA und in anderen westlichen Staaten die große Mehrheit der Juden angehört, eine eigene Gebetsstelle an der Westmauer in Jerusalem erhalten würden.

Netanjahu stimmte zuerst zu – und machte dann, auf Druck seiner ultraorthodoxen Koalitionspartner, eine Kehrtwende. »Als Politiker hat er vermutlich recht«, sagte Sharansky der »New York Times«. »Als derjenige, der der Anführer des jüdischen Volkes sein sollte, denke ich, war es ein großer Fehler.«

oslo-prozess Als Israelis und Palästinenser in den 90er-Jahren im Zuge des Oslo-Prozesses miteinander verhandelten, gründete Sharansky gemeinsam mit Gleichgesinnten »One Jerusalem«, eine Organisation, die sich für ein vereinigtes Jerusalem als Israels Hauptstadt einsetzt – im Gegensatz zu den Forderungen der Palästinenser und großer Teile der internationalen Gemeinschaft, den Ostteil der Stadt eines Tages zur Hauptstadt eines Palästinenserstaates zu machen.

2003 entwickelte er einen Test, legitime Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden.

Als der damalige Ministerpräsident Ariel Scharon 2005 beschloss, die israelischen Siedlungen im Gazastreifen aufzugeben, trat Sharansky, damals Minister für Jerusalem-Angelegenheiten, aus Protest gegen den Schritt zurück.

In Artikeln und Vorträgen hat er wiederholt linke und pro-palästinensische Gruppierungen kritisiert, darunter die Non-Profit-Organisation »Breaking the Silence«, die anhand von Augenzeugenberichten ehemaliger israelischer Soldaten mutmaßliche Vergehen der Armee dokumentiert. Derartige Organisationen versuchten, »die Flagge der Menschenrechte zu nutzen, um den Staat Israel zu verunglimpfen«, warnte er 2018 in einer Ansprache in der Knesset.

DEBATTENKULTUR Manche Kritiker werfen Sharansky vor, bei seinem Einsatz für Demokratie und Menschenrechte die Palästinenser auszublenden. Sharansky dagegen argumentiert, es sei die »freie Welt«, die das Leid der Palästinenser ignoriere – jenes Leid, das ihre korrupten und autoritären Machthaber ihnen zufügten.

Gegen einen unabhängigen Palästinen­serstaat hat Sharansky grundsätzlich nichts einzuwenden, allerdings nur, wenn ein solcher Staat demokratische Institutionen hätte – denn, so argumentiert er im Sinne Kants, Demokratien führten untereinander keinen Krieg.

In jüngster Zeit treibt ihn besonders die Debattenkultur in westlichen Ländern um. »Im Westen kommt der Druck, sich anzupassen, heute nicht von der totalitären Spitze – unsere politischen Anführer sind keine stalinistischen Diktatoren«, schrieb er kürzlich in einem Essay für das US-Magazin »Tablet«. »Stattdessen kommt er von den Fanatikern in unserer Umgebung, unseren Vierteln, in der Schule, am Arbeitsplatz, die oft die Aussicht auf Twitter-Shaming nutzen, um Menschen zum Schweigen zu drängen – oder zu einer gefälschten, politisch korrekten Konformität.«

zeitgeist Sharansky stemmt sich gegen den progressiven Zeitgeist, nicht nur in dieser Hinsicht. Dass manche ihn deshalb einen »extremen Zionisten« und »rechten, neokonservativen Ideologen« schimpfen, kann jemanden, der für seine Überzeugungen neun Jahre im sowjetischen Straflager saß, kaum beeindrucken.

Die Welt wird gewiss weiter von ihm hören – sei es zu Demokratie und Menschenrechten, Protesten in Hongkong oder der Frage, wie sich im Lockdown die Langeweile vertreiben lässt. Sein zentrales Thema ist und bleibt: die Freiheit.

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