Pessach, Ostern und der Fastenmonat Ramadan sind friedliche Feste. In Jerusalem scheinen sie allerdings manches Mal das exakte Gegenteil zu sein. Es ist diese Zeit des Jahres, in der die Sicherheitskräfte in der Stadt in höchster Alarmbereitschaft sind. Im vergangenen Jahr – und in diesem wieder.
Das 740 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Plateau des Tempelbergs ist umkämpft. Es ist ein Ort, der für Juden und Muslime heilig ist. Auf Hebräisch Har Habait, der Berg des Hauses, auf Arabisch al-Haram al-Scharif, das Edle Heiligtum. Doch es ist auch Wahrzeichen der Stadt, abgebildet auf zahllosen Postkarten und Buchdeckeln. Schon von Weitem sieht man die goldene Kuppel des Felsendoms in der Sonne glitzern, darunter die jahrtausendealten Steine der Klagemauer, die einst Befestigungswand des Tempels war.
Hier geht es immer wieder um den ständig angeführten »Status quo«, der – wenn tatsächlich angetastet – die gesamte Region in einen Krieg verwickeln könnte. Doch was besagt er genau? Der Status quo erklärt, dass es Menschen aller Religionen zu bestimmten Zeiten erlaubt ist, den Tempelberg zu besuchen, jedoch lediglich Muslime dort öffentlich beten dürfen. Allerdings geschah es mehr als einmal, dass die bloße Anwesenheit von Juden zu gewalttätigen Ausschreitungen von meist jungen Palästinensern führte.
Sechstagekrieg Die Verwaltung des Tempelbergs obliegt der jordanischen Regierung und der religiösen islamischen Waqf-Behörde. Israel ist für die generelle Sicherheit zuständig. Diese Übereinkunft besteht seit Ende des Sechstagekrieges, in dem Israel die Altstadt und den Ostteil von Jerusalem von den Jordaniern erkämpfte und annektierte. Die Vereinbarungen zum Status quo sind im Friedensvertrag zwischen den Nachbarn verankert.
Es ist mitnichten nur der islamische Waqf, der keine Gebete von Juden auf dem Tempelberg wünscht.
Dabei ist es mitnichten nur der islamische Waqf, der keine Gebete von Juden auf dem Tempelberg wünscht. Auch das Oberrabbinat und viele Rabbiner untersagen es generell, das Gebiet auch nur zu betreten. Der Grund ist allerdings kein politischer, sondern die außergewöhnliche Bedeutung dieses Ortes. Besucher könnten die Regeln verletzen, da der genaue Standort des früheren Heiligtums unbekannt ist. Für die meisten streng religiösen Juden gilt: Erst in der messianischen Zeit wird der Tempel wieder erstehen.
Einige extremistische jüdische Organisationen, kaum mehr als eine Handvoll, sehen das anders. Sie wollen den Jerusalemer Tempel schon im Hier und Jetzt errichten und würden dafür die Zerstörung der muslimischen Heiligtümer in Kauf nehmen. Während dies in keiner Weise israelische Politik ist, sondern stattdessen die ausdrückliche Wahrung des Status quo, die von der Regierung in Jerusalem immer wieder betont wird, machen palästinensische Politiker und islamische Geistliche die Existenz dieser Gruppen häufig zum Stein des Anstoßes. Sie betonen ihren alleinigen Anspruch auf den Tempelberg und behaupten oft, dass die israelische Regierung daran arbeite, die Kontrolle über das Gebiet zu übernehmen.
»Gänzlich falsch«, sagt dazu die Vizebürgermeisterin der Stadt, Fleur Hassan-Nahoum. Sie erläutert die Entstehung der Gewalt der vergangenen Wochen: Durch palästinensische Gewalttäter, die Juden auf dem Weg zum Gebet angriffen und Steine sowie Brandbomben vom Tempelberg warfen, »ist absichtlich eine Situation geschaffen worden, durch die in der muslimischen Welt verbreitet wurde, dass der Haram al-Scharif Gefahr laufe, übernommen zu werden, oder dass der Status quo in irgendeiner Weise geändert werden« soll.
Falschmeldungen »Diese Aufwiegelung, die Lügen und falsche Berichterstattung wurden Tag für Tag durch die sozialen Netzwerke weiterverbreitet. Dabei ist es dasselbe Drehbuch der Hamas wie im Jahr zuvor«, führt Hassan-Nahoum aus. Denn die Verbindung zwischen Jerusalem und der Terrororganisation sei für die Führung der Hamas existenziell, um ihre in der Bevölkerung schwindende Macht zu wahren.
Tatsache sei, so Hassan-Nahoum, dass Israel die Ausübung der Religionsfreiheit für alle Bürger schütze, die Unruhestifter dies jedoch verhindert hätten. »Also haben wir die Hooligans entfernt und so dafür gesorgt, dass seit Beginn des Ramadans Hunderttausende Gläubige auf dem Tempelberg beten konnten. Alle Nachrichten darüber, dass Muslime auf dem Haram al-Scharif keine Religionsfreiheit haben, sind Fake News.«
Für die meisten streng religiösen Juden gilt: Erst in der messianischen Zeit wird der Tempel wieder erstehen.
Und diese Falschmeldungen seien ausschließlich dazu da, die muslimischen Gläubigen in der ganzen Welt zu erzürnen. »Sich als ›Beschützer Jerusalems‹ auszugeben, ist für die Hamas Existenzberechtigung.« Die Organisation sei dieses Mal besonders scharf in der Rhetorik gewesen, meint sie, was sich an den Reaktionen der Golfstaaten zeige, die Israel kritisierten.
religionsfreiheit »Doch Israel und Jerusalem bewahren den Status quo«, resümiert die Vizebürgermeisterin. Während der Pessachzeit gebe es »seit vielen Jahrzehnten eine sehr limitierte Anzahl von jüdischen Betern auf dem Tempelberg, und das ist die einzige Religionsfreiheit, die Juden auf diesem Areal haben«.
Das Schicksal des Tempelbergs war und wird wahrscheinlich noch lange ein Hauptstreitpunkt in den israelisch-palästinensischen Beziehungen sein. Da beide Seiten so emotional in diesen einen Hügel involviert sind, scheint eine Einigung oft schier unmöglich. So ist und bleibt er das sprichwörtliche Pulverfass der Region, das wegen eines vermeintlich falschen Schrittes oder Wortes explodieren kann. Und das nicht nur an Feiertagen.