Es ist eine unscheinbare Tür im hinteren Teil eines Einkaufszentrums im Stadtteil Givat Schaul von Jerusalem. Dahinter könnte sich ein Büro verbergen, ein Lager oder eine Garage. Doch für die Menschen, die täglich hindurchgehen, ist der Eingang lebensverändernd. Es ist die Tür zu »Tsad Kadima«.
Die Worte sind Hebräisch und heißen »Schritt nach vorn«. Und genau den sollen die jungen Erwachsenen, allesamt mit komplexen Behinderungen, gehen. Denn die Organisation weiß, dass auch Schwerstbehinderte in erster Linie Menschen mit Träumen, Wünschen und Fähigkeiten sind.
»Dank der Unterstützung vieler wunderbarer Menschen wird das jeden Tag Realität«, sagt Benjamin Maor, der sich seit Jahren für Tsad Kadima einsetzt. 1987 wurde die Organisation als Gemeinschaftsprojekt von Fachleuten und Eltern von Kindern mit Zerebralparese gegründet. »Sie machten sich auf eine transformative Reise«, so Maor. »Denn das Ziel von Tsad Kadima ist es, Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, an sich selbst zu glauben, ein aktives, erfülltes und sinnvolles Leben in der Gemeinschaft zu führen und maximale Autonomie zu erlangen.«
Jeder Mensch besitzt Potenzial
Dafür wird nach den Prinzipien der »konduktiven Förderung« gearbeitet, eines pädagogischen Ansatzes, der auf der Überzeugung beruht, dass jeder Mensch das Potenzial besitzt, Fähigkeiten zu erlernen und die komplexen Herausforderungen zu meistern, denen er gegenübersteht.
In den Räumen, ehemaligen Büros, sind die 41 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in verschiedenen Gruppen aktiv. Etwa ein Dutzend Männer und Frauen sitzt um eine Pädagogin, auf dem Schoß haben sie Tablets, auf denen Musik spielt. »Wir lernen heute, was Misrachi-Musik ist«, sagt ein junger Mann. Er sitzt in einem Rollstuhl mit Kopfstütze und zufrieden. »Es macht Spaß.«
Einige Meter weiter strömt ein köstlicher Duft unter einer Tür hervor. Dahinter verbirgt sich eine Küche, eine Gruppe von Männern und Frauen hat gekocht. Unter dem Titel »Einmal um die Welt« probieren sie Gerichte aus der Ferne. »Wir haben Tortilla gemacht«, sagt eine Frau. Und ihr Sitznachbar ergänzt: »Wir kochen aber nicht nur, sondern lernen auch über das Land, die Hauptstadt und wie man dort lebt.« Dann beißen beide genussvoll in die Tortilla.
Im Regal hinter ihnen stehen Bierflaschen mit bunten Etiketten. »Wir haben das Bier selbst gemacht«, sagen mehrere junge Leute mit Stolz in der Stimme. Jeder bringt sich entsprechend seinen Fähigkeiten ein – das ist das Motto. »Ja, das Bier ist nur von euch«, bestätigt die Leiterin des Zentrums, Hadassah Diner. »Wir haben spezielle Geräte eingesetzt, damit jeder einzelne Schritt von den Teilnehmern eigenständig durchgeführt werden kann – vom Brauen über das Abfüllen bis zum Verschließen und Etikettieren der Flaschen.« Das »Bira Kadima« wird auf Facebook und Instagram beworben, die Gruppen ebenfalls von den Teilnehmern selbst verwaltet.
Fünf Tage die Woche
Das Zentrum ist an fünf Tagen die Woche geöffnet. Die Teilnehmer und 18 Beschäftigten kommen aus allen Bereichen der Stadt, sind jüdisch, christlich, muslimisch, säkular bis streng religiös. »Die Diversität von Jerusalem ist hier repräsentiert und wird auch gelebt, etwa mit dem Feiern der Feste der verschiedenen Religionen«, hebt Diner hervor. »Jeder soll sich akzeptiert fühlen.« Das Treffen mit anderen und die Gymnastik, damit der Körper in Bewegung kommt, gehörten zu den wichtigsten Elementen hier. »Es gibt den Leuten die Motivation, am Morgen aufzustehen«, so Diner, »denn hier sind sie aktiv, nicht passiv.« Weiter geht es mit Aktivitätsgruppen, etwa Literatur, Physiotherapie, Kochen, Animation und Computer- oder Kunst- und Musikunterricht. Diese Gruppen werden am Jahresanfang von den Teilnehmern ausgesucht.
»Die Idee, in Gruppen zu arbeiten, ist ein Teil der konduktiven Pädagogik. Das Individuum gibt der Gruppe, und die Gruppe gibt dem Individuum«, erläutert Diner. »Und wenn jemand die Gruppe verlassen will, weil ihm etwas weniger gefällt als gedacht, wissen wir, dass wir alles richtig gemacht haben«, fügt Maor hinzu und schmunzelt. »Denn dann spüren sie, dass etwas nicht stimmt, haben die Motivation, etwas zu ändern, und die Werkzeuge, es auch umzusetzen.«
Die Teilnehmer sind
jüdisch, christlich,
muslimisch, säkular bis streng religiös.
Im vergangenen Jahr habe sich eine Gruppe über das Motto beschwert, das hieß: Von der Behinderung zum aktiven Leben. Die Menschen wollten nicht über »behindert« definiert werden. Nun heißt es: Tsad Kadima – zum aktiven Leben, erzählt Maor. »So sieht Erfolg für uns aus.«
Die Leiterin ist besonders stolz auf ihr akademisches Programm: »Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch das Recht besitzt, zu lernen, allerdings nicht immer die Möglichkeit dazu hat.« Dafür wurde vor elf Jahren eine Zusammenarbeit mit dem Jerusalemer David Yellin College of Education begonnen. Zunächst seien die Studenten einmal in der Woche zu Tsad Kadima gekommen, um die Teilnehmer zu unterrichten. Heute steht das gemeinsame Lernen im Vordergrund, die behinderten Menschen nehmen »am ganz normalen Unterricht teil – das ist ein echter Paradigmenwandel«.
Nun hofft die Einrichtung auf ein »angemessenes, barrierefreies Zuhause«. Die Jerusalem Foundation unterstützt die Mittelbeschaffung für ein »aktives Gemeindezentrum« im Stadtteil Talpiot für etwa 60 junge Erwachsene, dessen Fertigstellung bis 2026/2027 geplant ist. Mit dabei soll auch ein Trainingsapartment sein, in dem die Teilnehmer lernen, selbstständig zu leben. Noch aber ist nicht ausreichend Geld vorhanden. »Doch wir hoffen, dass wir bald genügend Mittel zusammenbekommen«, so Maor. »Damit wir weiterträumen können.«