Noch etwa 123.700 Überlebende der Schoa leben heute in Israel, mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Tova Ringer war eine von ihnen. Auf dem wohl bekanntesten Bild von ihr trägt sie bordeauxfarbenen Nagellack und eine Schärpe mit der Aufschrift »Schönheitskönigin«. Ihr kurzes silbergraues Haar ist elegant frisiert. Sie strahlt über das ganze Gesicht, winkt in die Kamera, das strassbesetzte Krönchen auf ihrem Kopf ist ein wenig zur Seite gerutscht.
Die in Polen geborene Tova Ringer überlebte das Zwangsarbeiterlager Gabersdorf (Libec), die Konzentrationslager Groß-Rosen und Schömberg. Sie war die jüngste von sieben Geschwistern, ihre Eltern, vier Schwestern und ein Großelternteil verlor sie im Konzentrationslager Auschwitz. Die überlebenden Geschwister, die nach der Schoa in verschiedene Teile der Welt auswanderten, waren bereits nach und nach verstorben. Tova Ringer starb nicht, bis letzte Woche. Sie wurde 102 Jahre alt.
Mit der Staatsgründung 1948 emigrierte Tova Ringer nach Israel. Da das Personal auf dem Auswanderungs-Schiff nur Hebräisch sprach, und sie die Frage nach dem Geburtsjahr nicht richtig beantworten konnte, wurde 1925 statt ihres tatsächlichen Geburtsdatums im Jahr 1923 in ihren neuen Pass eingetragen. Auf diese Art wurde ich zwei Jahre jünger, sagt sie lächelnd in die Kamera.
Tova Ringer fiel es schwer, über das ihr Widerfahrene zu sprechen
Der Filmemacher Radek Wegrzyn begleitet den israelischen Schönheits-Wettbewerb »Miss Holocaust Survivor«, zu dessen Siegerin Tova Ringer im Jahr 2018 gekürt wurde. Im Wettbewerb, an dem als Organisatorin auch eine Traumatherapeutin mitwirkt, nahmen zwölf Frauen im Alter von 77 bis 95 Jahren teil. Es gehe es nicht allein um Schönheit, erklären die Veranstalter. Vielmehr sei es wichtig, die Frauen zu würdigen, ihnen etwas zurückzugeben, was ihnen damals verwehrt gewesen sei. Eine Kompensation sozusagen.
Tova Ringer gehörte zu der letzten Generation von Überlebenden, die davon erzählen können, wie es »wirklich war«. Im Dokumentarfilm erzählt sie, dass ihre Kinder viel gefragt hätten. Ihr selbst sei es jedoch schwergefallen, darüber zu sprechen. »Ich habe die Worte einfach nicht aus mir herausbekommen.« Ein bisschen was habe sie ihren Kindern erzählt. »Aber nicht, wie der Kommandant mit mir ins Bett wollte. Oder wie ich geprügelt worden bin«, sagt sie und verstummt.
Wie alles, was in Israel geschieht, hat auch dieser Wettbewerb Befürworterinnen und starke Kritiker im Land.
Es geht in diesem Wettbewerb um Trauma, oder besser gesagt um das Überwinden davon. Es geht um Resilienz. Tova Ringer ist wie die Spitze eines Eisberges, sie gibt Bruchstücke ihres Erlebten preis, aber ein Großteil verbleibt spürbar in ihrem Inneren. Immer wieder bricht ihre Stimme und sie kann nicht weitersprechen.
Wie alles, was in Israel geschieht, hat auch dieser Wettbewerb Befürworterinnen und starke Kritiker im Land. Wie könne man - aus feministischer Sicht - Frauen auf ihr Äußeres reduzieren? Darf man ihre Geschichten vor einer großen Öffentlichkeit medial so ausbreiten?
Zu Gloria Gaynors Popsong »I will survive«, der programmatisch durch den Abend leitet, laufen die Teilnehmerinnen über die Bühne. Unter den Bewerberinnen ist eine pensionierte Gynäkologin, eine Mathematiklehrerin, eine Kunsttherapeutin. Sie wurden zuvor mit einer weißen Limousine aus dem Seniorenheim für Holocaust-Überlebende in Haifa abgeholt, von Visagisten gestylt und geschminkt. Auf der Fahrt proben sie gedanklich ihren bevorstehenden Auftritt: Würdevoll auftreten, bloß keine Fehler machen. »Das ist doch kein Universitätsexamen«, verspottet eine der Teilnehmerin die Ernsthaftigkeit der anderen. Alle lachen.
In einer anderen Sequenz gibt die vorherige Gewinnerin des alle zwei Jahre stattfindenden Wettbewerbs ihnen mit auf den Weg, an diesem Tag einfach Spaß zu haben. Ein Erlebnis zu genießen, das ihnen unvergessen bleiben wird.
Viele Schoa-Überlebende müssen in Armut leben
Diese Szenen stehen diametral zur Lebensrealität vieler Schoa-Überlebender in Israel und auch in Europa. Eine nicht geringe Zahl von ihnen lebt in relativer Armut, sie müssen an Medikamenten und Lebensmitteln sparen, um finanziell über die Runden zu kommen. Zwar gibt es Organisationen, die versuchen, dem etwas entgegenzuwirken. Oft reichen das Engagement und die dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel jedoch nicht aus, um ihnen einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen.
Etwas zynisch mutet mit diesem Hintergrund die Aussage einer der Koordinatorinnen der Misswahl an, dass es in dem Wettbewerb auch darum ginge, was für ein Mensch jeder der Teilnehmerinnen geworden sei. Was strahlen sie heute aus? Sind sie verbittert, oder haben sie ihren Lebensmut wiedergefunden?
Viele Schoa-Überlebende, die in den Nachkriegsjahren nach Israel einwanderten, erlebten in der israelischen Gesellschaft eine Stigmatisierung als Opfer. Zudem kam bei vielen die sogenannte »Survivor Guilt« zum Tragen, eine Belastung durch eigenes Schuldempfinden, selbst überlebt zu haben, während viele andere anstelle ihrer selbst ermordet wurden.
In einem Interview wünschte sich Tova Ringer mehr Respekt für Überlebende der Schoa.
Tova Ringer erzählt im Dokumentarfilm leise von ihren Erlebnissen während der Schoa. Sie beschreibt den Raum, den sie sich mit zwölf anderen Mädchen teilen musste. »Es war kein Todeslager, nur ein Arbeitslager«, sagt sie. Daher sei es vielleicht gar nicht so schlimm gewesen. Ihre Stimme bricht ab, der Eisberg zieht sie wieder in die Tiefe.
Als Tova Ringer vor wenigen Tagen verstarb, hinterließ sie zwei Söhne, fünf Enkel und elf Urenkel. Sie spielte gerne Rommé und Bridge und war jeden Tag in Bewegung. Für den Dokumentarfilm ließ sie sich sogar ins Fitnessstudio begleiten. In einem Interview wünschte sie sich mehr Respekt für Überlebende der Schoa. »Viele Menschen verstehen nicht, wie furchtbar die Dinge waren, die während des Holocaust passiert sind«, sagte sie. »Es gibt Leute, die glauben, Holocaust-Überlebende seien nicht ganz normal und dass sie übertreiben, was ihnen damals widerfahren ist.«
Einige Auschwitz-Überlebende haben sich die in ihre Haut tätowierte Häftlingsnummer nach dem Krieg weglasern lassen. Sie hatten das Gefühl, einen Makel zu tragen. Ein bizarrer Hintergrund, vor dem die Misswahl veranstaltet wird.
Vielleicht ist es dennoch auf eine Art schön, dass Tova Ringer als »Schönheitskönigin« und nicht als »Überlebende« in Erinnerung bleibt. Eine Misswahl, die um jeden Preis noch einmal das Leben feiert und Tova Ringer in den Genuss ihrer Weiblichkeit bringt.
No, not I, I will survive
Long as I know how to love, I know I’ll stay alive
I’ve got my life to live
And all my love to give and
I will survive
I, I, I will survive
So heißt es im Song von Gloria Gaynor. In Zukunft werden wir dabei vielleicht an die greisenhafte Dame mit dem bordeauxfarbenen Nagellack denken, die so viel zu geben hatte. Sie hat überlebt.