Jerusalem

Rechte und Rituale

Jehuda Glick (2.v.l.) nach seinem Tempelberg-Besuch am 29. August Foto: Flash 90

Nach nahezu zwei Jahren besuchten vergangene Woche zum ersten Mal wieder jüdische Knessetabgeordnete den Tempelberg in Jerusalem. Im Oktober 2015 hatte Premier Benjamin Netanjahu wegen der angespannten Lage allen Parlamentariern untersagt, das Gelände zu betreten. Immer wieder war es zuvor zu blutigen Unruhen gekommen. Der Tempelberg ist Heiligtum für Muslime wie Juden und einer der größten Konfliktherde des Nahen Ostens.

Der Besuch von zwei Politikern an diesem brenzligen Ort ist keine Nebensächlichkeit. Dass es sich um Schuli Moalem-Refaeli von der religiös-nationalen Partei Jüdisches Haus und Jehuda Glick vom Likud handelte, ist zudem ein Signal. Beide sind lautstarke Vertreter eines Betrechts für Juden auf dem Areal. Glick ist Anführer von Liba, einer Koalition von Tempelberg-Gruppen, die sich nach eigenen Worten für »eine totale und umfassende Freiheit und Bürgerrechte für Juden auf dem Tempelberg« einsetzen.

Der Status quo aber besagt, dass nur Muslime dort beten dürfen. Vertretern anderer Religionen ist es lediglich erlaubt, den Tempelberg zu besuchen. Jeder Nichtmuslim, der an diesem Ort betet, wird sofort festgenommen. Beim Besuch von Moalem-Refaeli und Glick kam es nicht dazu. Umringt von schwer bewaffneten Polizisten spazierten sie über das Areal.

Terror Es sei der Versuch, zu sehen, wie die Präsenz von Politikern auf dem Gelände die aktuelle Situation beeinflusst, hieß es von der Regierung dazu. Der »Versuch« kommt in einer Atmosphäre dauerhafter Instabilität. Im Juli waren zwei Grenzpolizisten von arabisch-israelischen Terroristen erschossen worden. Die Angreifer waren über das Areal der heiligen Stätte gekommen. Danach hatte die Regierung an den Eingängen Metalldetektoren aufbauen lassen, was zu weiteren Ausschreitungen führte.

Dennoch rufen immer mehr jüdische Gruppen nach der Erlaubnis, auf dem Tempelberg beten zu dürfen. Und es sind nicht nur rechte Extremisten. Der Politiker Glick macht aus seinem Ansinnen keinen Hehl. »Der Tempelberg ist die Quelle meines Lebens«, sagte er vergangenen Donnerstag. Er habe für seine Familie gebetet, für Netanjahus Stärke und Frieden im Nahen Osten. Auf die Frage, ob die Aktion von Muslimen als Provokation gesehen werden könnte, antwortete er: »Meiner Weltsicht nach trägt jeder, der den Tempelberg mit guten Absichten besucht, zum Weltfrieden bei.«

Modelle des Tempels gibt es vielerorts in Jerusalem. Im Israel-Museum steht eines, das das Jahr 66 darstellt. Die Western Wall Heritage Foundation wurde in den 80er-Jahren vom Religionsministerium gegründet mit dem Ziel, die Kotel und die Tunnel darunter zu bewahren. In einer audiovisuellen Darstellung zeigt sie eine Rekonstruktion des einstigen Tempels, ein Gemeinschaftsprodukt von Archäologen, Historikern, Künstlern und Rabbinern. Von einem Wiederaufbau ist nicht die Rede.

Mainstream Doch einige Gruppen wollen einen dritten Tempel auf der Anhöhe sehen. In der ernstzunehmenden Zeitung Makor Rischon, die vor allem die nationalreligiöse Gemeinde bedient, wird die Erbauung regelmäßig propagiert. Die kontroverse Diskussion um den jüdischen Zugang zum Tempelberg ist Mainstream geworden.

Eran Tzidkiyahu ist Politikwissenschaftler, Reiseführer, Lehrbeauftragter am »Forum for Regional Thinking« und promoviert derzeit in Paris. Er veranstaltet interkulturelle und interreligiöse Dialoge und führt Gruppen an die Brennpunkte in und um Jerusalem, dazu gehört auch der Tempelberg. »Die meisten säkularen Israelis haben dazu nicht viel zu sagen. Sie verstehen die politischen Empfindlichkeiten nicht und auch nicht die Bedeutung der Stätte für die Muslime«, sagt Tzidkiyahu. »Gleichzeitig fragen viele, warum Juden hier nicht beten dürfen. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem Diskurs der Aktivisten und dem der Öffentlichkeit.«

Die jüdische Tempelbewegung von heute sei ein Konglomerat von Bewegungen, Organisationen sowie Individuen und reiche von religiösen und messianischen Rechtsextremisten über politische Pragmatiker bis hin zu säkularen Nationalisten, erläutert Tzidkiyahu. »Einige von ihnen sprechen eindeutig über die Zerstörung von Moscheen und die Rekonstruktion des dritten Tempels für die Erlösung. Für andere geht es um das Recht von Juden, dort zu beten.« Seit den 90er-Jahren seien die Tempelberg-Aktivisten von den Rändern der Gesellschaft in die Mainstream-Politik gewandert.

status quo Diese Entwicklung erzürne die palästinensische Bevölkerung, weil jegliche Änderung des Status quo als israelische Übernahme gewertet werde. Gleichzeitig habe jedes territoriale Zugeständnis, jede Aufgabe von Gebieten durch Israel seit den 80er-Jahren eine Stärkung der Bewegungen innerhalb der religiös-zionistischen und teilweise der ultraorthodoxen Bevölkerung zur Folge gehabt, erläutert der Politikwissenschaftler.

»Nach der Aufgabe des Sinai 1982 gründete der Rabbiner von Yamit das Tempel-Institut im jüdischen Viertel, nach Oslo waren es Mosche Feiglin und die Rabbiner des Jescha-Siedlerrates, die näher an den Tempelberg rückten, im Anschluss an den Abzug aus Gaza war es Rabbi Jehuda Glick.« Der Parlamentarier habe sogar seinen Job aufgegeben, um sich ganz der Strategie zu widmen, die verschiedenen Tempel-Organisationen unter einen Hut zu bringen.

Mit Erfolg. Heute ist Glick die führende Persönlichkeit in diesem Zusammenhang, gemeinsam mit einer Mischung aus jungen und alten, religiösen, fundamentalistischen und anderen Aktivisten, weiß Tzidkiyahu. »Viele sind schlicht normale Leute, denen das Thema wichtig ist. Denn für die religiöse Rechte hat der Tempel das Konzept der territorialen Integrität als Weg zur messianischen Erlösung ersetzt.«

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