Israel

Raketen und Routine

Es ist Sonntagabend. Ich bin wütend auf meinen Sohn, und er ist sauer auf mich. Eine halbe Stunde zuvor sagte mir Dean, dass er einen Friseurtermin gebucht hat. Mehr als 20 Minuten von uns entfernt. »Nur um cool auszusehen? Dafür riskierst du dein Leben?«, poltere ich heraus – und bereue meine Worte, noch bevor ich sie zu Ende gesprochen habe. Wir sind im Krieg. Die Raketen aus dem Iran können uns immer überraschen. Jede Stunde, jede Minute.

Er ist frustriert, hatte sich auf die Party zum Schuljahresende gefreut. Hatte geplant, entfernte Cousins und Cousinen in Deutschland kennenzulernen. Wollte mit seinen Freunden an den Strand gehen, mit dem Fahrrad durch die Stadt düsen und ein ganz normaler Teenager sein – alles gestrichen. Jetzt sitzt er auf dem Sofa und schaut auf sein Telefon. Zu viel Zeit und zu wenig zu tun.

»Alles ist totale Scheiße«, sagt er und kann nur mit Not die Tränen zurückhalten. Er ist 16 und erlebt den, ich weiß nicht wievielten, Krieg. Ich nehme ihn fest in den Arm. Mehr Zeit für Gefühle haben wir nicht. Es pingt auf unseren Telefonen. Zehn Minuten bis zur nächsten Salve der Mullahs. Knapp zwei Minuten brauchen wir bis zum öffentlichen Bunker. Wir setzen uns auf eine der Bänke und machen ein Selfie. »Für Opa«, sage ich in einem Versuch der Aufmunterung.

»Geh ruhig zum Friseur«, flüstere ich Dean zu, als wir die Treppen wieder hinaufsteigen. Sich an kleine, vermeintlich unwichtige Dinge zu klammern, sich etwas Gutes zu tun und gewisse Routinen einzuhalten, empfehlen israelische Psychologen in Krisensituationen. Es fördere die Resilienz. Ein schneller Plausch im einzigen Café, das geöffnet hat, eine Maniküre im Luftschutzbunker, die Leute hierzulande sind erfinderisch. Mein israelischer Mann ist Meister darin. Regelmäßig nimmt er sich Auszeiten vom Irrsinn der Realität, geht Hummus essen, spaziert durch die Gegend. »Kleine Fluchten« nennt er das. Ich bin nicht sonderlich gut darin. Vielleicht bin ich zu deutsch, zu realistisch, zu ängstlich und definitiv zu müde. Die Schlaflosigkeit bringt uns fast um den Verstand. Wenn die Iraner eines geschafft haben, ist es, die Israelis mürbe zu machen. »Eine Nation voller Zombies«, sagt meine Freundin.

Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Nächte ich kaum geschlafen habe. Immer wieder werden wir nachts von den Sirenen geweckt. Um eins, um drei, um halb fünf, dann wieder am Nachmittag oder zum Abendbrot. Einen Rhythmus haben die Iraner nicht – und wir schon gar nicht mehr. Egal, womit wir gerade beschäftigt sind, wir lassen alles stehen und liegen und gehen los in Richtung Bunker, wenn die Warnmeldung ertönt. Nur eines nehme ich immer mit: meine Tasche mit der Notfallration Wasser, unseren Pässen und dem Laptop. Wer weiß, ob unser Haus noch steht, wenn wir zurückkehren.

Ich gehe in mein Schlafzimmer und versuche zu arbeiten. Auf dem Stuhl liegt eine Lampe, die ich mir lange gewünscht hatte. Ich freute mich so, sie aufzuhängen. Doch dann kam der Krieg. Die Fassung, die ich brauche, kann ich nicht kaufen. Fast alle Läden sind geschlossen. Jetzt liegt sie da wie ein Mahnmal des Kontrollverlusts.

Ich versuche krampfhaft, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Schreibe Artikel nach Artikel über Zerstörung, Verlust, Verwüstung und Tod. Es macht etwas mit der Seele, wenn man sich hauptsächlich mit Themen wie diesen beschäftigt. Dabei hatte ich, als ich vor vielen Jahren hierherzog und mit der Berichterstattung begann, »mein wundervolles Israel« zeigen wollen. Ein interessantes Land mit besonderen Menschen, außergewöhnlich vielen Problemen, aber auch außergewöhnlich viel Lebensfreude. Ich verliebte mich Hals über Kopf in dieses komplexe Fleckchen Erde, und es wurde mein Zuhause. Viel ist seitdem geschehen. Ich weiß nicht mehr, wie viel Kaffee ich heute schon getrunken habe. Er ist zu meinem Überlebenselixier geworden. Dazu essen wir zu viel Schokolade, zu viel Brot, bewegen uns zu wenig. Doch für Gesundheit haben wir im Moment keine Energie. Wir leben nicht, wir überleben nur.

Krieg ist nicht ausschließlich Angst, Sorge und Chaos. Krieg ist auch Frust und Monotonie. Es gibt weder Schule noch Büro, weder Sportverein noch Treffen mit Freunden. Der Verlust der Gewissheit, gepaart mit dem extremen Schlafmangel, ist eine toxische Mischung. Sie frustriert und macht wütend.

Eine Aufgabe zu haben, und sei sie noch so klein, ist in diesen Tagen der Ungewissheit wichtig.

Eine meiner besten Freundinnen will diese Wut nicht mehr spüren. »Ich habe genug von Krieg und Terror, meine Kinder sollen in Frieden leben«, machte sie kurz nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 klar und kaufte ein Haus auf Zypern. Erst sollte es nur für die Ferien sein. Doch nun ziehen sie weg. Ganz. »Ich will eine bessere Zukunft für meine Kinder«, sagt sie und versucht, überzeugt zu klingen. Doch ich kenne sie. Das schlechte Gewissen und die Trauer in ihren Augen kann sie nicht verbergen, nicht vor mir.

Die Tochter meiner Freundin ist die beste Freundin von Eden, meiner kleinen Tochter. Sie kennen sich seit dem Kindergarten. Wir gehen durch menschenleere Straße unserer Nachbarschaft, um uns von ihnen zu verabschieden. Vor einigen Tagen haben die Mädchen T-Shirts bemalt. Sie strichen Stofffarbe auf Hände und Arme und umarmten sich fest. Auf dem Stoff blieben die Abdrücke ihrer Umarmung. Darunter schrieben sie: »Eden und Gili – 2016 bis unendlich«.

Meine Freundin und ihre Familie müssen über Jordanien ausreisen. Flüge aus Israel gibt es so gut wie keine. Auch wir können nicht weg. Dabei stehen die Sommerferien vor der Tür, und wir hatten einen Urlaub in Deutschland und Italien geplant. Die Enttäuschung bei mir und meinen Kindern sitzt tief. Wieder einmal Flüge abgesagt, wieder einmal Besuche mit Familie und Freunden in der alten Heimat verschoben.

Ich habe mich auf den Balkon zurückgezogen, neben mir schnurrt unsere Katze Minka. Sie ist fast 20 und braucht täglich Infusionen, weil ihre Nieren nicht mehr funktionieren. Ein Vorteil ihres fortgeschrittenen Alters ist ihre Schwerhörigkeit. Keine Sirene reißt sie aus dem Schlaf. Katzen sind unsere emotionale Unterstützung geworden. Wir laufen durch die Gegend, einen kleinen Beutel mit Futter in der Tasche, und füttern die Miezen der Nachbarschaft.

Eine Aufgabe zu haben, und sei sie noch so klein, ist in diesen Tagen der Ungewissheit wichtig. Natürlich wäre es schön, wenn wir von morgens bis abends tiefgreifende Gespräche führen, gemeinsam kochen und Brettspiele spielen könnten. Doch die Realität ist eine andere. Mein Mann und ich müssen arbeiten, meine Kinder haben keinerlei Routine, und über allem hängt die Bedrohung der Raketen wie eine unheilvolle Ahnung, die uns überallhin folgt.

Am Freitagabend kommt meine älteste Tochter Dana, die fünf Minuten zu Fuß entfernt wohnt. Wir wollen zusammen kochen, Sirenen und Krieg ausblenden, ein paar Stunden Normalität genießen. Normalerweise hören wir laute Musik, gern auf Deutsch, singen mit und lachen viel. Mein Herz geht auf, wenn ich sehe, dass meine Kinder Texte von deutschen Liedern auswendig können, die ich selbst als Teenager gesungen habe. Falco, Herbert Grönemeyer, Die Toten Hosen. »Steh auf, wenn du am Boden bist …« An diesem Abend lachen wir kaum.

Wir sitzen auf dem Balkon, sind mitten in Tel Aviv, doch kein Laut ist zu hören. »Die Ruhe vor den Sirenen«, sagt Dana. Ich möchte sitzen bleiben, alles ausblenden und so tun, als seien wir nicht im Krieg, als gebe es keinen Ausnahmezustand, keine Sirenen. Ich sehne mich nach Ruhe und Belanglosigkeit. Ich möchte mir über Dinge des Alltags den Kopf zerbrechen, nicht darüber, ob es heute Krieg gibt und morgen Frieden, wir leben oder sterben. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da pingt es auf unseren Telefonen.

Am Montag fährt mein Sohn mit seinem Elektrofahrrad zum Haareschneiden. 20 Minuten dauert der Weg. Zehn Minuten brauchen die Raketen. Ich lächele, als er mit seinem Helm in die Küche kommt, um sich zu verabschieden. »Der hilft dir auch nicht, wenn …«, sage ich, schlucke und klopfe auf das Plastik. »Es wird nichts passieren, Mami. Das verspreche ich dir.«

Er hat sein Versprechen nicht gehalten. Als er noch beim Friseur sitzt, schrillen die Sirenen. Aus dem Bunker schreibe ich: »Wo bist du?« Er liest meine Nachricht nicht. Es ist ein gutes Zeichen, in den meisten Schutzräumen ist keine Verbindung, doch ich rutsche nervös hin und her. 30 Minuten später Entwarnung. Ich rufe ihn an. Mit Video. »Schön siehst du aus«, schreie ich fast in die Kamera. Dean lacht. Und das ist das Einzige, was zählt.

In unserem Podcast berichtet Sabine Brandes von ihrem Leben und ihrer Arbeit seit Beginn des israelischen Angriffs auf das iranische Atomprogramm am 13. Juni.

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