Raketen

Nachts im Tiefgeschoss

Dakar Levi hat ihre Schuhe vor den Eingang gestellt und sich ins Bett gelegt, um mit ihrer Freundin zu telefonieren. Ihre Behausung ist dunkel und klein, gerade einmal zwei Meter im Quadrat. Die Frau aus Tel Aviv hat es sich nicht in ihrer Wohnung gemütlich gemacht, sondern in einem Einmannzelt tief unter der Erde. Hier, im Geschoss 4 der Tiefgarage des Dizengoff Center, versammeln sich jede Nacht Menschen, um Schutz vor den Raketen des Iran zu suchen.

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»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in einem Parkhaus schlafe«, sagt die 48-Jährige und lächelt gequält. Ihre schwarzen Haare sind schick frisiert, die Kleidung ist gebügelt. Levi wohnt in einer Mietwohnung ganz in der Nähe und hat einen unterirdischen Sicherheitsraum, der zum Gebäude gehört. »Doch die Tür fehlt, und die Stadtverwaltung hat es bislang nicht geschafft, eine neue einzubauen. Das ist mir einfach zu unsicher.«

»Ich musste bis zu viermal in der Nacht aufstehen und losrennen«

Zuvor sei sie bei jedem Alarm in einen öffentlichen Bunker gelaufen, doch nach fünf Tagen hatte sie genug. »Ich musste bis zu viermal in der Nacht aufstehen und losrennen. Am Ende konnte ich fast gar nicht mehr schlafen und war tagsüber völlig gerädert«, so die Angestellte einer Versicherungsgesellschaft. »Doch ich muss arbeiten, wenn auch von zu Hause aus, und wach sein.«

Eine Freundin habe ihr dann vom Parkhaus unter dem Einkaufszentrum erzählt. »Es ist zwar ein wenig düster hier, doch es sind so viele Leute da, dass es mich nicht stört.« Zudem würde die Verwaltung sich sehr um Sauberkeit kümmern. »Vor allem aber bekommen wir hier nichts von Raketen mit. Und ich kann endlich wieder schlafen.«

Mehr als die Hälfte der israelischen Wohnungen hat keinen eigenen Schutzraum.

Auch dort, wo normalerweise Pendler auf die U-Bahn warten, liegen heute Matratzen. Dutzende Menschen haben sich in der Station Allenby-Straße niedergelassen, um die Angriffe aus dem Iran in Sicherheit zu überstehen. Die U-Bahn ist erst wenige Jahre alt, hell, neu und sauber mit funktionierenden Toiletten. Und vor allem tief unter der Erde. Vor der Linie in Richtung Petach Tikwa sitzt Toni in einem Schlafsack und löffelt Reis aus einer Plastikschale. Er kommt aus Rumänien und ist in Israel auf Baustellen beschäftigt. Am ersten Tag der Vergeltungsangriffe aus dem Iran wurde die Gegend in Ramat Gan getroffen, in der er lebt. Vier Gebäude wurden völlig zerstört, eine Frau kam ums Leben. »Zwar steht unser Haus noch, doch alle Scheiben sind zerborsten, und Strom gibt es auch keinen.«

Die Wucht des Einschlags hat zutiefst schockiert

Toni hat Angst, dass so etwas noch einmal geschieht, die Wucht des Einschlags hat ihn zutiefst schockiert. »Wir haben keinen Sicherheitsraum, und der nächste Bunker ist einige Minuten Fußweg entfernt. Es war mir zu ungewiss, ob ich es rechtzeitig schaffe. In der U-Bahn-Station fühle ich mich aber völlig sicher.«

Oben auf der Straße sitzen drei Soldatinnen vor dem Eingang, um dafür zu sorgen, dass alles seine Ordnung hat. Nebenan hat ein Imbiss geöffnet. Zwei junge Männer essen Schawarma. »Wir leben in einer WG in einem alten Haus ohne Schutzraum. Also schlafen wir hier«, sagt Tomer Gur, der in einem Start-up beschäftigt ist, und zeigt auf den Eingang der U-Bahn. »Eigentlich ist es ganz cool, wir haben schon einige nette Leute kennengelernt.«

Laut Angaben des israelischen Bauträgerverbandes fehlte Ende 2024 bei 56 Prozent der schätzungsweise knapp drei Millionen Wohnungen in Israel ein sogenannter Mamad, der interne Schutzraum mit verstärkten Wänden und Metallschutz vor Fenstern und Tür. In der Metropole Tel Aviv sollen es sogar rund 76 Prozent der Wohnungen sein, die keinen Mamad haben.

Gemeinschaftlich genutzte Sicherheitsräume

Ein Großteil der Apartmentgebäude verfügt aufgrund der 1969 eingeführten Bauvorschriften über gemeinschaftlich genutzte Sicherheitsräume, meist unterirdisch. In den 70er- und 80er-Jahren begann man in vielen Hochhäusern zudem, auf jeder Etage Schutzunterkünfte zu bauen, auf Hebräisch »Mamak«.

Den Bewohnern der meisten Städte stehen zudem zahlreiche öffentliche Bunker zur Verfügung. Allerdings wird schon lange kritisiert, dass es in vorwiegend arabischen Gemeinden erheblich daran mangelt. In der arabischen Stadt Tamra im Norden des Landes kamen in der vergangenen Woche vier Frauen bei einem direkten Einschlag einer iranischen Rakete ums Leben. Nur 40 Prozent der Einwohner hätten Zugang zu Schutzräumen, erklärte der Vorsitzende der Hadasch-Taal-Partei, Ayman Odeh.

11.000 Israelis mussten ihre Häuser wegen Zerstörung verlassen.

Was aber geschieht, wenn die Häuser der Schutzsuchenden tatsächlich getroffen werden? 11.000 Israelis mussten bislang ihre Häuser wegen Schäden und Zerstörung verlassen. Bislang seien rund 35.000 Anträge wegen Vermögensschäden eingereicht worden, sagt Vladimir Beliak, Knessetabgeordneter für Jesch Atid und Oppositionsvorsitzender im Finanzausschuss. Auf die Frage, ob die Hilfe für die Betroffenen, die ihre Wohnungen verloren haben, schnell genug ankomme, erklärt der Knessetabgeordnete: »Nein, es fehlt ein klares Konzept. Zum einen, weil der Staat Israel ein Ereignis dieses Ausmaßes noch nicht erlebt hat, und zum anderen, weil sich die Regierung nicht ausreichend auf die Versorgung der Zivilbevölkerung vorbereitet hat.«

Während die Opposition die militärische Operation gegen den Iran unterstütze, sei es jetzt das vorrangige Ziel, »den Menschen zu helfen«, macht er klar. Am Dienstag hat Oppositionsführer Yair Lapid vorgeschlagen, ein Heimatfrontkabinett mit einem Vertreter der Opposition einzurichten, um die Prozesse zu beschleunigen. »Ziel ist es, den Menschen individuell und auf parlamentarischer Ebene zu helfen«, so Beliak. »Das ist jetzt unser wichtigstes Anliegen.«

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