Gaza-Konflikt

Lieber unter Beschuss als in Europa

Nach einem Anschlag am Montagnachmittag in Jerusalem Foto: Flash 90

Eine der ganz wenigen israelfreundlichen norwegischen Zeitungen hat mich gebeten, aufzuschreiben, wie ich meinen Alltag bewältige, während in Gaza der Konflikt weitergeht. Gehe ich einkaufen? Fühle ich mich sicher? Besuche ich Freunde? Gehe ich in Restaurants? Und so weiter und so fort.

Diese Fragen haben mich gezwungen, meinen Tagesablauf genauer anzuschauen. Anders als früher fühle ich mich jetzt getrieben, jede Stunde auf eine hebräische Website mit den neuesten Nachrichten zu gehen. Ich mache mir Sorgen um unsere Soldaten, vor allem um einen meiner Studenten, der einberufen wurde und im oder nahe beim Gazastreifen ist. Da er nicht telefonieren kann, hat er eine originelle Methode gefunden, mich wissen zu lassen, dass es ihm gut geht: Wann immer ich einen Text auf Facebook poste, schickt er ein »Gefällt mir«.

Zu den Gefallenen oder Verwundeten bestehen Verbindungen. Den Großvater eines der entführten und ermordeten Religionsschüler kenne ich gut und seit Jahren. Der Sohn eines Freundes meines Ältesten wurde bei den Kämpfen schwer am Arm verletzt. Vor ein paar Tagen teilte unsere Synagoge mit, dass ein Soldat aus unserer Nachbarschaft getötet wurde.

Wir hatten mehrere Alarme wegen Raketen, die auf Jerusalem abgefeuert wurden, aber das stört mich weniger. Ich gehe dann immer ins Treppenhaus, wo ich einige meiner Nachbarn treffe. Wir haben nicht genug Zeit, den Luftschutzkeller unseres Hauses zu erreichen.

mails Die Zahl der E-Mails, die mich erreichen, hat stark zugenommen. Freunde und Kontaktpersonen aus dem Ausland schreiben mir von antisemitischen Vorfällen in ihren Ländern und von anti-israelischen Demonstrationen, die indirekt Unterstützungskundgebungen für die Islamo-Nazis von der Hamas sind.

Um Anfragen von Journalisten zu beantworten, verbringe ich einen Großteil meiner Zeit damit, den Nachrichtenfluss zu analysieren. Ich bereite so auch zukünftige Artikel darüber vor, was man in den vergangenen Wochen über Europa und seine muslimische Bevölkerung gelernt hat. Es geht dabei nicht nur um zunehmenden Antisemitismus und Israel-Verleumdung, sondern auch um das öffentliche Auftreten von Anhängern eines völkermörderischen Islam in Europa. Bis jetzt hatte diese Gefahr für die Juden und die westliche Zivilisation hauptsächlich ihren Ausdruck darin gefunden, dass junge muslimische Freiwillige zum Dschihad in den Nahen und Mittleren Osten reisten.

In und um Jerusalem kommt es zu Vorfällen. Gruppen von Arabern protestieren gewaltsam, manche greifen Juden an, andere zerstören Teile des Straßenbahnnetzes. Heute hat ein Araber bei einem Anschlag mit einem Traktor einen Menschen getötet und mehrere verletzt. Davon erfahre ich aus den Medien. Dort lese ich auch von fröhlichen Arabern, die jedes Mal feiern, wenn die Sirenen vor Hamasraketen warnen, die auf Jerusalem abgefeuert wurden.

schocker Eine meiner Nachbarinnen klingelt. Sie ist geschockt, was einer Angehörigen in Antwerpen passiert ist, einer 90-jährigen Dame, die eine Rippe gebrochen hatte. Ihr Sohn rief die Notarztzentrale an, aber der diensthabende Mediziner weigerte sich, zu kommen. Er sagte etwas wie: »Begeben Sie sich ein paar Stunden nach Gaza, dann geht der Schmerz vorbei.« Ärzte legen den hippokratischen Eid ab, den dieser Vertreter der Zunft gebrochen hat.

Mir geht durch den Kopf, welcher Riesenunterschied zwischen diesem belgischen Arzt und seinen israelischen Kollegen besteht, die seit Jahren viele Palästinenser behandeln, einschließlich mörderischer Terroristen. Meine Nachbarin sagt, dass sie die Meldung aus Antwerpen nicht glauben konnte. Ich antworte ihr, dass in Europa 2014 nichts mehr unglaublich ist.

Freitags gehe ich mit der Familie meines ältesten Sohns mittags essen. Meine Schwiegertochter erzählt, dass eine ihrer Freundinnen der Mutter eines gefallenen Soldaten einen Kondolenzbesuch abgestattet hat. Die Mutter erzählte, dass ihr Sohn hinter einem Armeefahrzeug stand, das ihn vor Beschuss schützte.

Eine arabische Frau kam mit erhobenen Händen auf ihn zu. Er beschloss, sie durchzulassen. Dafür musste das Armeefahrzeug rangieren. Die Frau ging durch, und in dem Moment erschoss ein arabischer Scharfschütze den Soldaten. »Ich habe meinen Sohn zu einem anständigen Menschen erzogen«, schloss die Mutter traurig. »Und weil er genau das war, wurde er getötet.«

no future Freitagabend bin ich bei Freunden mit einer bekannten amerikanischen-jüdischen Führungspersönlichkeit zum Essen eingeladen. Unter den Gästen ist eine Journalistin, die für eine italienische Tageszeitung arbeitet. Weil sie dort wahrheitsgemäß das Verhalten der Hamas beschreibt, hat sie aus Italien Todesdrohungen erhalten. Wir alle am Tisch sind – der eine früher, der andere später – zu dem Schluss gekommen, dass die Oslo-Vereinbarung mit der PLO 1993 ein dramatischer Fehler der damaligen israelischen Führung war.

Nach Ende des Schabbat lese ich im Internet Nachrichten aus westeuropäischen Medien. Binyomin Jacobs, einer der beiden niederländischen Oberrabbiner, hat erklärt, dass viele holländische Juden sich fragen, ob sie noch eine Zukunft in dem Land haben.

Als ich Student und Jacobs ein Kind war, war ich einer seiner Lehrer an der Religionsschule. Das war zu der Zeit, als die Führung der niederländischen Juden über die Gestaltung der Zukunft nachdachte. Jetzt überlegen die Juden der Niederlande, ob ihre Gemeinschaft zerstört werden wird oder nicht.

Manfred Gerstenfeld ist ehemaliger Vorsitzender des mit Außenpolitik und Sicherheitsfragen befassten Thinktanks »Jerusalem Center for Public Affairs«. Er wurde 1937 in Wien geboren und wuchs in Amsterdam auf, wo er in Umweltstudien promovierte. 1968 machte er Alija aus Paris, diente in der israelischen Armee, war Generaldirektor einer führenden Beratungsfirma sowie Aufsichtsratsmitglied der »Israel Corporation« und anderer Unternehmen. Gerstenfeld gilt als führender israelischer Europa-Experte und hat zahlreiche Bücher über den Kontinent verfasst.

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