Meinung

Israels innere Stärke

Ilan Mor, ehemaliger Botschafter Israels in Ungarn und Kroatien.

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Israels innere Stärke

Ein Gastbeitrag von Ilan Mor

von Ilan Mor  14.10.2024 20:57 Uhr

Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen seit jenem Tag, an dem der Himmel über uns zusammenbrach, an jenem verfluchten Samstag, dem 7. Oktober 2023. »Das Jahr und seine Flüche sollen enden«, wünschen sich die Juden zu Rosch Haschana, und es scheint, dass dieser Wunsch nie passender war. Die Vernachlässigung. Das Massaker. Die Niederlage. Der Mut. Wir beenden ein verfluchtes Jahr, das seinen Ursprung in der Katastrophe vom 7. Oktober hat.

Dieser Tag wird ein prägender Moment im kollektiven Gedächtnis Israels bleiben. Solche traumatischen Ereignisse erschüttern die Gesellschaft und zwingen sie, innezuhalten und schwierige Fragen zu stellen – über sich selbst, ihre Werte und ihre Verteidigungsfähigkeit.

Die Ereignisse des 7. Oktobers haben gravierende Mängel im Sicherheits- und Nachrichtensystem aufgedeckt und betonen die Notwendigkeit von Reformen, einschließlich der Verbesserung der Kommunikation zwischen den Regierungs- und Sicherheitsorganen. Sie haben auch negative Trends in der strategischen und operativen Umgebung Israels enthüllt, die eine zeitgemäße, umfassende Strategie erfordern. Es ist daher wichtig, so schnell wie möglich eine staatliche Untersuchungskommission einzurichten, um die Prozesse und Entscheidungen, die zur Tragödie vom 7. Oktober geführt haben, gründlich zu untersuchen.

Solange der Kampf gegen Hamas und Hisbollah andauert, ist es schwierig über einen Versöhnungsprozess mit den gemäßigten arabischen Staaten zu sprechen. Der einzige Weg, Sicherheit zu gewährleisten, besteht darin, eine politische Vision für die Zeit danach zu entwickeln.

Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit zwischen Israel und den Ländern der Region gegen die Raketenangriffe des Iran. Dies verdeutlicht die Bedeutung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit und betont die seltene politische Gelegenheit. Hierfür ist ein Wandel in Israels Denkweise erforderlich. Israel hat Nasrallah gefunden, jetzt muss es eine Strategie finden.

Nachdem die unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe sichtbar wurden, zeigte die israelische Gesellschaft beeindruckende soziale Widerstandsfähigkeit. Es schien, als würden die Ereignisse die soziale Solidarität stärken, unterstützt von breiter Zustimmung zu den Kriegszielen und den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF).

Leider war dieses Gefühl der Einheit nur vorübergehend und konnte die gesellschaftliche Spaltung, die mit der Justizreform im Januar 2023 und den darauffolgenden Massenprotesten einsetzte, nicht überwinden. Zudem führten tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, eine Wirtschaftskrise, ein Rückgang des Konsums und des Tourismus sowie gestiegene Sicherheitsausgaben zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit von Regierung und öffentlichem Dienst. Die israelische Öffentlichkeit fordert mehr Transparenz und Verantwortlichkeit von ihren politischen Führern.

Die sozialen Herausforderungen haben die Debatte über die Identität der israelischen Gesellschaft neu entfacht. Innerhalb dieser Gesellschaft gibt es ein breites Spektrum an politischen Meinungen, Religionen, Weltanschauungen und ethnischen Gruppen, deren Unterschiede oft im öffentlichen Diskurs betont werden. Traumatische Ereignisse enthüllen jedoch das tief verwurzelte Bedürfnis nach Einheit.

Eine zentrale Erkenntnis ist, dass Vielfalt und Pluralismus nicht notwendigerweise zu Spaltung führen müssen. Ein offener und respektvoller Dialog sowie das Streben nach einer gemeinsamen Zukunft, basierend auf den Prinzipien der israelischen Unabhängigkeitserklärung und der Vision von Theodor Herzl, sind entscheidend für das Überleben einer vielfältigen Gesellschaft wie der israelischen.

Das Massaker hat die Frage nach dem Umgang mit dem Anderen verschärft. Kann die israelische Gesellschaft Empathie und Mitgefühl für alle Menschen entwickeln, auch für jene außerhalb ihrer Grenzen oder im Konflikt mit ihr? Die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, wann Entschlossenheit und Stärke gefordert sind und wann Raum für Menschlichkeit und Mitgefühl existiert. Mitgefühl ist keine Schwäche, sondern ein moralischer Maßstab, der die innere Stärke der Gesellschaft offenbart.

Das kollektive Gedächtnis ist ein Grundpfeiler der israelischen Kultur. Das Massaker vom 7. Oktober sollte als Mahnmal dienen, das an die Kosten der Überheblichkeit und die Verpflichtung zur gegenseitigen Verantwortung erinnert. Der Schmerz über den Verlust israelischer Bürger verpflichtet die Gesellschaft, das Andenken an die Ermordeten und gefallenen Soldaten zu wahren.

Über die physische und zeremonielle Erinnerung hinaus muss das Gedächtnis ein essenzieller Bestandteil der Lebensauffassung und Werte werden. Jeder in der israelischen Gesellschaft sollte an diesem Prozess teilnehmen – nicht nur als Trauer um die Vergangenheit, sondern als Verpflichtung zu einer sichereren und gerechteren Zukunft.

Bildung ist das Fundament jeder Gesellschaft. Die wichtigste Lehre aus den Ereignissen des 7. Oktober ist, dass kommende Generationen in den Werten der Gleichheit, Solidarität, des gegenseitigen Respekts und der sozialen Verantwortung erzogen werden müssen. Das israelische Bildungssystem muss Toleranz und Offenheit fördern und das Bewusstsein für die Bedrohungen schärfen, die über dem Staat schweben.

Die israelische Gesellschaft muss weiterhin an die Gerechtigkeit ihres Weges glauben, insbesondere in Bezug auf das Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung in seiner Heimat. Aus kollektiver Verantwortung für sich selbst und die jüdischen Gemeinschaften weltweit sollte die moralische Rechtfertigung für die Gründung Israels als sicheren Zufluchtsort für Juden erneuert und verstärkt werden.

Das Massaker vom 7. Oktober ist ein dringender Aufruf zur Selbstreflexion und zur Gewinnung tiefgreifende Einsichten. Die Lehren aus einem solchen Ereignis müssen uns auch im Alltag begleiten, nicht nur in Krisenzeiten, denn nur so können wir unsere Zukunft sichern. Vor allem muss anerkannt werden, dass der grundlegendste Vertrag zwischen dem Staat Israel und seinen Bürgern durch kriminelle Fahrlässigkeit verletzt wurde.

Damit es repariert und erneuert werden kann und neues Vertrauen gewonnen werden kann, müssen auch alle Entführten aus Gaza nach Hause gebracht werden!

Der Autor war israelischer Diplomat, unter anderem von 2004 bis 2009 als Gesandter in Berlin, von 2011 bis 2016 als Botschafter in Budapest und von 2018 bis 2022 als Botschafter in Zagreb.

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