In Israel zählt man dieser Tage die Minuten. Wie lange dauert es von der Sirene bis zum möglichen Einschlag? Während die Menschen seit Langem an Raketenangriffe gewöhnt sind, fühlt sich dieser Krieg zwischen Israel und dem Iran anders an.
Fast jeden Morgen wachen die Israelis jetzt zu Nachrichten über Tote und Verletzte in ihren Städten auf. »Es ist apokalyptisch«, findet Sam Friedman, der sich in einem Supermarkt mit Milch und Butter eindeckt. »Manche Straßen in Tel Aviv sehen aus wie in Gaza. So etwas habe ich in meinen 15 Jahren hier noch nie erlebt«, sagt der ehemalige New Yorker und schüttelt den Kopf.
Immer wieder wird der nächtliche Himmel über Israel von Lichtstreifen und Feuerbällen eintreffender Geschosse und heimischer Abfangraketen erhellt. Schulen, Kindergärten, Universitäten, Restaurants, Büros und Läden sind seit Freitag im ganzen Land bis auf Weiteres geschlossen, Versammlungen untersagt. Es ist lediglich »lebenswichtigen Geschäften« wie Supermärkten, Bäckereien und Apotheken erlaubt zu öffnen. Der Flughafen ist zu, der Luftraum abgesperrt, fast niemand kann das Land verlassen.

Statt in ihren Klassenzimmern haben die Schulkinder am Vormittag Zoom-Unterricht. »In der ersten Stunde sprechen wir darüber, wie sich die Kinder fühlen, das ist in dieser emotionalen Belastung das Wichtigste«, erklärt Orit Natan, Lehrerin an einer Grundschule. Oft seien die Eltern damit beschäftigt, drei Mahlzeiten zu kochen und den Haushalt zu erledigen. »Alle stehen unter maximalem Stress, und wir Lehrer versuchen zu helfen, damit wir alle diese schwere Zeit so gut wie möglich überstehen.«
»Es ist viel schlimmer als alles, was wir je erlebt haben«
Schlomo Gat, ein Elektriker aus Petach Tikwa, meint, die militärische Auseinandersetzung mit dem Iran sei lange überfällig gewesen. »Es darf kein Regime geben, dass Israel mit der Zerstörung droht, während es Atomwaffen baut. Dass das verhindert wird, ist voll und ganz gerechtfertigt.« Es sei die richtige Entscheidung von Premierminister Benjamin Netanjahu gewesen, ist Gat überzeugt. Er ist an diesem Tag unterwegs, um Leitungen zu reparieren, die in der vergangenen Nacht im Zentrum von Tel Aviv durch den Einschlag einer iranischen Rakete zerstört wurden.
Zehn Minuten Fußweg entfernt sitzt Olivia Kadosch mit der dreijährigen Maya auf einem Spielplatz. »Es ist schlimm für uns, viel schlimmer als alles, was wir je erlebt haben. Jede Nacht Tote und Hunderte Verletzte. Das gab es noch nie«, flüstert sie, damit ihre Tochter die Worte nicht hört. »Vier Nächte rennen wir schon in Bunker, mit zwei Kleinkindern und einem Hund im Schlepptau. Wir sind erschöpft und haben keine Ahnung, wie lange es noch dauern wird.« Politik interessiere die junge Mutter nicht, sie wolle nur in Frieden leben und ihre Kinder aufwachsen sehen. »Aber jetzt habe ich Angst um unser aller Leben.«
Im Bunker ist Zeit, für politischen Streit
Seit Donnerstag bekommen die Israelis mehrfach am Tag und vor allem in der Nacht Warnungen auf ihre Mobiltelefone, den sogenannten Amber-Alert. Ab diesem Moment haben sie etwa zehn Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Sirene, die durch Lautsprecher ertönt, zeigt an, dass noch eineinhalb Minuten verbleiben. An Schlaf ist dabei kaum zu denken.
Im öffentlichen Bunker an der Metulla-Straße von Tel Aviv haben sich Montagnacht rund 50 Leute versammelt, viele mit Kindern und Hunden. Auch Adi Cohen ist hier. Um ihn herum vermischen sich Sirenengeheul mit Stimmengewirr, Gebell und Handyklingeln zu einer Kakophonie des Krieges. »Ob ich dafür bin, dass wir den Iran angegriffen haben? Nein, absolut nicht«, macht er klar. »Natürlich ist das iranische Regime extremistisch, und es wäre gut, wenn es weg wäre. Doch warum müssen wir unser Leben riskieren, um es zu Fall zu bringen? Das ist nicht unsere Verantwortung. Und wo sind die Amerikaner?«
Der Student der Politikwissenschaften ist stattdessen überzeugt, dass Netanjahu den Zeitpunkt des Angriffs auch für sein politisches Überleben wählte. »Das iranische Volk interessiert ihn nicht im Geringsten. Auch sein eigenes ist ihm leider egal. Es geht bei Netanjahu einzig darum, seine Macht zu erhalten.«
Sein Sitznachbar, Mosche Atias, widerspricht vehement. »Bibi hat das gemacht, um das israelische Volk zu retten.« Während die beiden Männer noch diskutieren, wer Recht hat, bewegen sich die Menschen langsam wieder in Richtung Ausgang. Es ist kurz nach vier Uhr in der Nacht. Entwarnung. »Bis zum nächsten Mal«, sagen die Menschen und lächeln gequält. »Denn das wird es leider sicher geben.«
Am Morgen danach sind die Straßen in Tel Aviv wie leergefegt. Nur die Fahrradkuriere sind dauerbeschäftigt. »Die Menschen bestellen pausenlos, am meisten im Supermarkt«, sagt Yuri Khavkin, der seit vier Tagen Extraschichten fährt. »Der Krieg ist schlimm«, ruft er, lädt die Tüten in die quadratische Box auf seinem Gepäckträger und springt auf sein Elektrorad, bereit für die nächste Runde, »aber Israel ist stark und wird gewinnen«.