Konflikt

»Ich bin keine Träumerin«

Sie wohnt hier wegen der hohen Lebensqualität. Das sagt sie ganz ohne Zynismus. Roni Keidar lebt in Netiv Ha’asara. Es ist idyllisch hier. Die Luft ist frisch, an den Straßen blühen die Bougainvilleen üppig in Rosatönen, es gibt einen Tennisplatz, ein Schwimmbad, in den Gärten hängen Schaukeln. Doch vor einigen Wochen spielte hier niemand auf dem Rasen. Fast alle Einwohner waren geflüchtet – vor dem andauernden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen.

Während der Militäroperation »Protective Edge« donnerten die Geschosse nahezu pausenlos in die 850-Einwohner-Gemeinde. »Es war fürchterlich«, sagt Keidar. »Wir sind praktisch ständig in die Sicherheitsräume gerannt. Das macht einen verrückt.« Während sie spricht, sitzt sie in ihrem Garten, an den das Haus ihrer Tochter grenzt. Die Außenwand ist übersät mit Einschlaglöchern, davor parkt ein Auto. Im Metall prangen dicke Löcher, alle Scheiben sind zerborsten. Eine Rakete landete auf dem Grundstück der Keidars.

»Als ich den Knall hörte, wusste ich, es hat uns getroffen. Ich war am Rande der Hysterie.« Doch die Familie sollte in dem Krieg noch mehr Leid erfahren. Ronis Ehemann Ovadia ist bekannter Landwirtschaftsexperte, der Gewächshäuser in der Gemeinde betreibt. Mehrere Helfer aus Thailand arbeiten für ihn. »Ich bekam einen Anruf aus dem Gewächshaus. Auf der anderen Seite hörte ich nur Schreie.« Einer der Arbeiter war von einer Rakete getroffen worden und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Keidar kämpft mit den Tränen. »Er war wie ein Familienmitglied für uns, ich kann nicht glauben, dass er tot ist.«

Siedlung Netiv Ha’asara ist Gaza am nächsten. Gegenüber liegt Beit Chanun, der Ort, aus dem die meisten Kassamraketen gen Israel fliegen. Kaum 100 Meter trennen den Moschaw vom Palästinensergebiet. Die Grenze ist nicht zu übersehen. Meterhohe graue Trennwände aus Stahlbeton, Wachtürme und Radaranlagen teilen die beiden Seiten. Raketen und Soldaten sind die Realität der Bewohner. Eine, die Keidar nicht mehr hinnehmen will.

Keidar, geboren in England, lebte bis 1973 in der Siedlung Yamit im Sinai. Als mit Ägypten Frieden geschlossen wurde, mussten die Israelis die Halbinsel verlassen. »Wir hatten ein Paradies dort«, erinnert sich die Frau. »Aber das war der Preis für die Versöhnung.« Auch jetzt wäre sie bereit, viel für den Frieden zu geben. Und dass der kommen wird, daran glaubt sie felsenfest. »Wenn wir miteinander reden, wirklich reden und zuhören. Wenn wir den Standpunkt des anderen verstehen, dann wird es funktionieren. Denn anders sein heißt nicht, dass man hassen muss.«

»Ich bin keine Träumerin«, sagt sie. »Alle, die meinen, wir müssten weitermachen bis zum Ende, immer nur kämpfen – das sind die, die nicht realistisch sind.« Denn Keidar ist sicher: »So hält es keiner mehr lange aus. Das ist kein Leben. Weder für uns noch für die andere Seite.«

Ein ehemaliger leitender Geheimdienstmitarbeiter und Regierungsberater für arabische Angelegenheiten bestätigt, dass der Hamas nach dem Krieg die Unterstützung in der Bevölkerung weggebrochen sei. Die Schuld an der großen Zerstörung im Streifen werde nicht nur Israel angekreidet, denn »die Einwohner wissen ganz genau, dass die Hamas den Krieg angezettelt hat. Gäbe es jetzt Wahlen, sie bekäme nicht viel mehr als 20 Prozent«.

Telefon Keidar bestätigt das aus Gesprächen mit ihren Freunden jenseits der Grenze. »Sie haben die Nase gestrichen voll von der Hamas. Sie wollen, dass das Kämpfen und Sterben aufhört. Nicht alle zwei Jahre einen neuen Krieg, sondern ein normales Leben haben. Alle, mit denen ich spreche, sehen das so.«

Sie telefonieren regelmäßig, fragen einander, wie es ihnen geht. Manche Frauen aus Gaza trifft sie sogar, wenn sie ihre kranken Verwandten über die Grenze in israelische Krankenhäuser bringen. Dann reden sie über den Frieden. Das, was einmal sein könnte. Diese Treffen stimmen Keidar zuversichtlich, dass ihre Realität eines Tages tatsächlich eine andere sein kann. Friedlich.

Dafür setzt sie sich als Mitglied der Organisation »Kol Acher« (Die andere Stimme) ein, die vor fünf Jahren von Israelis im Grenzgebiet gegründet wurde. Zu lange habe die Gaza-Sderot-Region Krieg und Verzweiflung gesehen, heißt es auf der Website. »Wir wissen, dass unsere gewalttätige Realität geändert werden muss und kann. Kol Acher setzt sich für ein Ende der Blockade des Gazastreifens und der Angriffe von beiden Seiten ein. Die permanente Gewalt hat einen hohen psychischen und körperlichen Preis, den wir nicht mehr zahlen wollen.«

Zuwachs Vor dem letzten Krieg war Keidar das einzige Mitglied in ihrer Gemeinde. Jetzt sind fünf hinzugekommen. Für sie eine logische Folge: »Immer mehr Menschen erkennen, dass Gewalt keine Antwort sein kann. Ein Krieg zieht den nächsten nach sich. Es muss einfach aufhören.«

Die quirlige Frau ist daran gewöhnt, über ihr Leben zu reden. Sie empfängt Journalisten aus dem In- und Ausland, erklärt ihren Standpunkt bei Versammlungen. Die Menschen hören ihr zu. Bei einem Vortrag in den USA vor einigen Wochen aber weigerte sich das Publikum, sie sprechen zu lassen. Auf die Frage, warum, musste sie sich anhören, dass man es niemandem erlauben werde, den jüdischen Staat »mit Dreck zu bewerfen«.

Als sie von dieser Erfahrung erzählt, schüttelt Roni Keidar ungläubig den Kopf. »Natürlich liebe ich Israel! Ich gehe hier auch niemals weg. Aber die andere Seite wird auch nicht gehen. Denn es ist unser beider Zuhause.«

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