Die Antwort auf die Frage »Wer mit wem« hängt ganz davon ab, wer sich beteiligt. Mit diesem Satz könnte man die bevorstehenden Neuwahlen in Israel zusammenfassen. Heute wird zum vierten Mal innerhalb von zwei Jahren ein neues Parlament gewählt. Wer in der 24. Knesset sitzen wird, ist auch wenige Tage vor dem Stichtag noch völlig ungewiss.
Klar ist bislang lediglich eines: Mit den vorgezogenen Wahlen ist die Koalition aus dem konservativen Likud und der Zentrumspartei Blau-Weiß sowie den ultraorthodoxen Parteien beendet, die durch die nationale Notlage während der Corona-Pandemie entstand. Auf einem stabilen Fundament hatte sie von Anfang an nicht gestanden.
»Wir befinden uns inmitten einer zweijährigen politischen Krise, der längsten in Israels Geschichte«, resümiert der Präsident des Israelischen Demokratie-Instituts, Johanan Plesner. Doch was führte dazu? Zum einen sei es der unmittelbare Faktor, dass es »einen sehr beliebten Premierminister gibt, der ernsthafte persönliche und juristische Probleme hat«.
Aus diesem Grund brauche Netanjahu »eine Mehrheit von mindestens 61 Abgeordneten, die willens sind, trotz seiner juristischen Schwierigkeiten unter ihm zu dienen. Außerdem müssten die Koalitionspartner bereit sein, verschiedene Maßnahmen vis-à-vis der Gerichtsbarkeit mitzutragen, die ihm helfen, den Prozess gegen ihn zu verzögern, zu untergraben oder auszusetzen«, erläutert Plesner.
STABILITÄT Zum anderen sei die Krise ein Spiegel der Schwächen des israelischen Wahlsystems: Das gesamte Land ist ein einziger Wahlbezirk, und jede Partei, die die 3,25-Prozent-Hürde überschreitet, ist in der Knesset vertreten. »Im Vergleich zu anderen Demokratien führt dies zu einem zersplitterten Parteiensystem, in dem Koalitionen aus sechs bis sieben Partnern bestehen. Das verringert die politische Stabilität immens.«
Eine Schlüsselgruppe sind dieses Mal die israelischen Araber.
Vor seiner Anklage wegen Korruption sei es für den Premier wesentlich einfacher gewesen, eine Mehrheit zu bilden. Unter diesen Umständen aber sind viele nicht bereit, mit ihm in einer Koalition zu sitzen. Andererseits habe es auch kein Herausforderer geschafft, 61 oder mehr Mandate auf sich zu vereinen. »So kam der politische Stillstand der vergangenen zwei Jahre zustande.«
Daher sei dieses Mal vor allem die Wahlbeteiligung entscheidend, meint der Politikexperte. Während Ende der 90er-Jahre knapp 80 Prozent der Israelis ihre Stimmen abgaben, waren es bei den vergangenen drei Runden durchschnittlich immerhin noch 70 Prozent. »Interessanterweise haben die Menschen trotz drei aufeinanderfolgenden Runden keine Wahlmüdigkeit gezeigt. Offenbar haben sie ihr Interesse an der Politik noch nicht verloren.«
Eine Schlüsselgruppe seien dieses Mal die israelischen Araber. Während im April 2019 weniger als 50 Prozent von ihnen wählten, waren es im März des Folgejahres knapp 65 Prozent. »Generell ist eine höhere Beteiligung ein Problem für Netanjahu, denn die Araber stimmten historisch für den Nicht-Netanjahu-Block.« Doch das, sagt Plesner, sei heute nicht mehr unbedingt so. Denn während Netanjahu noch vor einem Jahr jene als Verräter bezeichnete, die auch nur in Erwägung zogen, arabische Parteien in die Koalition zu holen, buhlt er selbst in diesen Tagen um ihre Gunst. Netanjahu versprach, die ausufernde Gewalt in den arabischen Ortschaften zu bekämpfen und Millionen von Schekeln zu investieren. Auch mit verschiedenen Beduinenvertretern traf er sich in den vergangenen Tagen.
ARABER Es sei vor allem die soziologische Entwicklung, erläutert Plesner, die dies möglich mache. Der Trend der arabischen Gemeinschaft, die etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung stellt, würde zusehends in Richtung Integration in die israelische Gesellschaft, das öffentliche Leben und die Wirtschaft gehen. »Das ist ein positiver Trend, der sich sehr schnell entwickelt.« Besonders auffällig sei dabei die »transaktionale« Einstellung der arabischen Partei Raam unter der Leitung von Mansour Abbas. Dessen Leitsatz sei: »Wenn du uns unterstützt, könnten wir dasselbe für dich tun« – ein dramatischer Wandel.
Nicht alle indes äußern sich eindeutig zur Frage, mit wem sie koalieren würden – besonders jene, die das Zünglein an der Waage sein könnten. Das sind vor allem die nationalreligiöse Partei Jamina von Naftali Bennett und die säkulare Rechtspartei mit dem Vorsitzenden Avigdor Lieberman.
Zudem ist die politische Landschaft in den vergangenen Jahren komplexer geworden. Bis April 2019 gab es eine Standardverteilung in den vier Kategorien rechtsgerichtete, ultraorthodoxe, Mitte-Links- und arabische Parteien. Bei dieser Wahl indes sind zwei Gruppierungen hinzugekommen: die rechten Parteien, die sich gegen Netanjahu aussprechen, wie die »Neue Hoffnung« von Gideon Saar, und die rechten Gruppierungen, die sich noch nicht erklärt haben, wie Bennetts Jamina.
»Die Standard-Aufteilung in der israelischen Politik ist also nicht mehr gültig. Stattdessen hat sich eine Pro- und eine Anti-Netanjahu-Achse ergeben.« Jeder dieser beiden Blöcke könnte eine Mehrheit von 61 Mandaten erreichen, so Plesner. »Und das macht noch einmal deutlich, dass es tatsächlich um die Wahlbeteiligung geht und die Frage, welche Parteien es nicht in die Knesset schaffen.«
Das könnte sowohl Blau-Weiß von Benny Gantz als auch der Linkspartei Meretz und der arabischen Raam blühen. Deren Stimmen würden dann keinem Block zufallen und wären verschwendet. Yair Lapid, derzeit Oppositionsführer, wandte sich an die Bürger und erklärte, es sei sehr wichtig, dass Meretz in der Knesset vertreten ist. »Wenn jemand für sie stimmen will, sollte er es tun. Doch trotz aller Berechnungen der Blöcke sollte es klar sein, dass man keine Regierung ohne eine große Partei abwählen kann.«
ZIELE Trotz der dysfunktionalen Koalition der derzeitigen Regierung erreichte Netanjahu für sich gleich mehrere Ziele: Zum einen schädigte er seinen einstigen Herausforderer Gantz und dessen Partei Blau-Weiß politisch so sehr, dass die, obwohl noch Teil der Koalition, bereits jetzt schon fast in Vergessenheit geraten ist.
Zum anderen schaffte er es, eine weltweit einmalige Impfkampagne aus dem Boden zu stampfen. Absoluter Machtwille ist definitiv ein Attribut, das man Netanjahu zuordnen kann. Egal, wie scharf die Kritik seiner Widersacher ausfällt, egal, wie viele Prozesse gegen ihn geführt werden – der 71-Jährige scheint alles abzuschütteln.
Er selbst sieht sich berufen, das Land auch weiterhin anzuführen. Schließlich sei er der Einzige, der dazu in der Lage sei, ließ er jüngst in einem Fernsehinterview wissen. Tatsächlich sind jene, die ihn bei den Wahlen vor einem Jahr lauthals wegen der Korruptionsaffäre als »politisch erledigt« bezeichneten, verstummt. Denn niemand kann voraussehen, welches Ass der Politprofi dieses Mal aus dem Ärmel zieht.
Sollte Netanjahu es wieder einmal schaffen, eine Mehrheit auf sich zu vereinen, wäre es das 16. Jahr, dass er auf dem Premiersessel sitzt. Schon jetzt ist er der Ministerpräsident mit der längsten Amtszeit in der Geschichte des Staates. Keine Frage, dass er sich wieder einmal selbst übertreffen will.