Es scheint wie ein normaler Freitagmorgen auf dem Rabinplatz vor der Stadtverwaltung. Die Erwachsenen sitzen zusammen und unterhalten sich, ihre Sprösslinge tollen auf den Rasenflächen herum. Doch die Ansammlung der Leute ist alles andere als gewöhnlich: Es ist eine Mischung aus Israelis und Palästinensern jedes Alters, die über Frieden diskutieren. Neben der blau-weißen Flagge mit dem Davidstern weht die grün-rot-schwarz-weiße der Palästinenser im Frühlingswind mitten in Tel Aviv.
Es war auf genau diesem Platz, als an jenem schicksalhaften Abend im November 1995 der damalige Ministerpräsident Yitzhak Rabin den Massen zurief, er wolle »Schalom und Salaam«. An seiner Seite stand Schimon Peres. Rabin wurde am selben Abend von einem jüdischen Extremisten erschossen, Peres starb vor sechs Monaten. Für die Initiative »Minds of Peace« lebt ihre Idee weiter.
Botschafter Adar Weinreb ist Sozialaktivist, Partner eines Musikunternehmens und Mitorganisator der Veranstaltung »1000 Minds«, die im Rahmen der Initiative »Minds of Peace« 1000 Israelis und Palästinenser zusammenbringen wollte. »Denn«, meint er, »wenn sich die Leute in die Augen schauen und reden, sehen sie Menschen und keine Nation. So erschaffen wir Botschafter für den Frieden.« Heute sind viel mehr gekommen, als sich die Initiatoren erhofft hatten. Mindestens 1500, schätzt der Tel Aviver, der in New Jersey als Sohn israelischer Zionisten aufwuchs und mit 18 Jahren als »lone soldier« nach Israel kam. Eines Tages habe er über dem Foto eines Hamas-Soldaten in Kampfuniform sinniert, ob er selbst nicht auch so denken würde, wäre er auf der anderen Seite der Grenze geboren. Für ihn der Beginn, sich für die Verständigung beider Völker einzusetzen.
Mehr als 30 Treffen hat »Minds of Peace« bereits organisiert, der Tag in Tel Aviv ist bei Weitem das größte. 1250 Einreisegenehmigungen sind für die palästinensischen Teilnehmer von der israelischen Armee erteilt worden. »Allein das ist ein riesiger Erfolg«, freut sich Weinreb. Die Regeln sind simpel: An Gruppentischen spricht man (mit der Hilfe von Übersetzern) über Frieden, ohne den anderen dabei persönlich zu attackieren und ohne in die Geschichte zu gehen, wer den Konflikt begonnen hat und wer verantwortlich ist. »Man beginnt mit der Prämisse, dass alle dasselbe wollen – Frieden –, und beginnt zu diskutieren, wie der zu erreichen ist.«
Wahrheit Der Aktivist schaut sich um. Alles friedlich. »Wir wollen weg von diesem Bild ›Sie sind die Bösen, wir die Guten‹. Das ist nur die halbe Wahrheit. Jede Seite hat ihre eigenen Narrative. Ich möchte den Menschen beibringen, dass es diese zwei Wahrheiten gibt und beide ihre Legitimität haben.«
Die »Wahrheit« von Adala Shaheen ist anders als die von Naomi Gerstein. Und doch sitzen die Frauen nebeneinander, lachen und erzählen von ihrem Alltag. Ihre Kinder beäugen sich neugierig und wechseln das eine oder andere erste Lächeln. Die beiden Frauen haben ihre Facebook-Adressen ausgetauscht. Shaheen ist muslimische Palästinenserin aus Nablus, Gerstein jüdische Israelin aus Tel Aviv.
Shaheen gehört zu den Leuten, die eine Reiseerlaubnis bekommen haben. »Ich hatte solche Angst vorher, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Alles, was ich von Israel kannte, sind Soldaten und die jüdischen Siedler in unserer Nähe.« Auch in ihrem Kopf herrschen Feindbilder vor. Doch die 32-jährige Mutter von vier Kindern beschloss, sie zu durchbrechen. »Es war mein Traum, zu sehen, wie Israel wirklich ist.« Und wie ist es? »Wunderschön, ich bin so glücklich, hier zu sein.« Als sie es sagt, kommt ihr zwölfjähriger Sohn angelaufen, hinter ihm rennen mehrere palästinensische und israelische Kinder her. »Sehen Sie«, sagt sie, »ich sitze nur wenige Stunden an diesem Tisch und habe schon neue Freundinnen gefunden.« Vor allem für ihre Kinder will sie eine Versöhnung – »und damit die Möglichkeit, zu reisen, Israel und die ganze Welt kennenzulernen«.
Normalität Gerstein hört ihr aufmerksam zu und nickt. »Ich bin sehr bewegt, weil es so ein wichtiges Treffen ist. Zuerst hatte ich Sorge, dass es peinlich wird, aber es ist das Gegenteil, weil die Organisatoren an alles gedacht haben.« Die Diskussionen seien aufschlussreich, vor allem aber gefällt ihr eines: »Dieser menschliche Kontakt, das bisschen Normalität ist selten und doch so wertvoll.«
So sieht es auch Elie Avidor. »Wir müssen die Angst loswerden«, sagt er, während er mit einem palästinensischen Besucher Telefonnummern austauscht. Auf seinem grauen T-Shirt steht »Combatants for Peace«, die Organisation, in der sich ehemalige Soldaten von Kampfeinheiten für Frieden einsetzen. Nach 20 Jahren Nordamerika kehrte Avidor nach Israel zurück, um wieder zu kämpfen. »Ich musste es einfach tun. Aber diesmal ohne Waffen und ganz ohne Gewalt.« In seinen Augen ist der einzige Weg, »dass wir uns treffen, einander wieder als Menschen ansehen und so Vertrauen gewinnen«.
Die Ideen, die an den Tischen diskutiert werden, sind natürlich nicht neu, weiß Weinreb. »Doch es ist etwas anderes, wenn sie von den Menschen selbst kommen und nicht von der Politik.« Die am meisten gewünschte Lösung sei übrigens nicht die zweier Staaten nebeneinander, sondern eine Hybridlösung mit Souveränität der Gebiete in den Grenzen von 1967, doch völliger Bewegungsfreiheit für beide Seiten. »Der Friedenswille muss von den Menschen kommen. Es müssen Millionen sein, die die Politiker unter Druck setzen. Dann können wir gemeinsam die Extremisten auf beiden Seiten isolieren und zusammenwachsen«, erklärt der Initiator enthusiastisch.
Er sei optimistisch, dass diese Lösung langfristig die existenzfähigste sei. Nur den Politikern würde Krieg etwas nutzen. »Doch niemals den gewöhnlichen Menschen. Die profitieren einzig und allein vom Frieden.«