Immer weiter ging es nach unten. Stufe um Stufe. Bis sie in einer Grube tief unter der Erde angekommen waren. »Die war so winzig, dass die sieben Männer nicht sitzen konnten, sondern sich stehend an die Wand lehnen mussten. Es gab kein Licht und kaum Sauerstoff, sodass sie fürchteten zu ersticken. Dabei sollten sie doch befreit werden.« Dies sind die Worte von Avi Ohana, dem Vater der ehemaligen Geisel Yosef Chaim-Ohana, gegenüber dem öffentlich-rechlichen Radiosender Kan.
Die Geschichten der freigelassenen israelischen Geiseln zeichnen ein unerträgliches Bild des Lebens, das nur ein Überleben war, in den unterirdischen Gängen des Gazastreifens. Eines mit bohrendem Hunger, mit Folter, religiösem Zwang, doch auch mit unerschütterlicher Hoffnung, die die jungen Israelis während der mehr als zwei Jahre langen Gefangenschaft in der Gewalt der Hamas am Leben hielt.
»Er sollte im Austausch gegen Essen zum Islam konvertieren. Doch er weigerte sich.«
Rom Braslavskis Mutter
»Es war Folter auf eine Weise, die wir uns nie hätten vorstellen können«, so der Vater weiter. Dass sein Sohn es in die Freiheit geschafft hat, sei auch der Tatsache geschuldet, dass er ein Geheimnis hatte. Er schaffte es, seinen militärischen Hintergrund in einer Kampfeinheit der israelischen Armee zu verbergen. »Es war alles ein großes Wunder.«
Irgendwann wurde den Geiseln ein kleines Radio gegeben, damit sie den muslimischen Gebetsruf hören könnten, wie die Terroristen sagten. Aber die Gefangenen hätten schließlich elektrische Kabel im Tunnel gefunden und es geschafft, das Radio anzuschließen. »Yosef sagte zu mir: ›Papa, du wirst es nicht glauben, Elkana (Bohbot) und ich haben gehört, wie du interviewt wurdest. Es hat uns da unten so viel Kraft gegeben‹.«
Rom Braslavski, israelisch-deutscher Doppelstaatsbürger, schöpfte Überlebenswillen aus seinem jüdischen Glauben. Er wurde gefoltert, gefesselt und unter Druck gesetzt, im Austausch gegen Essen zum Islam zu konvertieren. Doch er habe sich geweigert, berichtet seine Mutter Tami Braslavski. Zu Beginn seiner Geiselhaft sei er in eine kleine Zelle in einer Wohnung gesperrt worden, an Armen und Beinen gefesselt, erzählt sie weiter. Jeden Abend bekam er ein halbes Stück Brot und etwas Reis zu essen. Er markierte die Tage an der Wand, bis ihn der Hunger dazu trieb, alles zu riskieren: Nachdem er sich aus seinen Fesseln habe befreien können, habe er versucht, Nudeln zu kochen. Da der Gasherd nicht funktionierte, zündete er ein Buch der Terroristen an, um Wasser in einem Topf zu kochen. Doch die mit Plastikfolie abgedeckten Fenster hielten den Rauch im Innern fest. Als Nachbarn begannen, an die Tür zu hämmern, sei Rom in Panik geraten. Aus Angst, dass sie ihn umbringen, versteckte er sich unter dem Bett, während Dutzende Menschen in die Wohnung stürmten. Sie fanden ihn nicht.
Avinatan Or hatte einen Fluchtversuch unternommen
Vor seiner Freilassung sei er von den Terroristen gezwungen worden, große Mengen zu essen, und leidet nun unter den gesundheitlichen Folgen des sogenannten Refeeding-Syndrom, das zu Lungen-, Herz- und Nervenschäden führen kann. Er sei in sich gekehrt, lehne Geschenke und Aufmerksamkeiten ab und möchte viel allein sein. »Er sagt mir: ›Ich brauche nichts. Ich möchte kein Telefon, keinen Fernseher und keinen Computer. Nur Himmel, Sonne und Luft‹.«
Avinatan Or, der Freund der zuvor bei einer Armeeaktion befreiten Geisel Noa Argamani, war fast die gesamte Dauer seiner Gefangenschaft isoliert. Sein Bruder Mosche Or sagt: »Er hat eine unglaublich schwere Zeit durchgemacht, bekam nicht viel zu essen. Aber sein Wille wurde nie gebrochen.« Einmal habe er einen Fluchtversuch unternommen, was sein Bruder als »typisch für ihn, einfallsreich und hart wie Zedernholz« bezeichnete. Avinatan sei jetzt »lebenshungrig«, fügte er hinzu, und informiere sich über das Weltgeschehen, israelische Politik und Ereignisse während seiner Abwesenheit. »Er isst viel, liebt Burger und gutes Essen, ist ein echter Feinschmecker. Alle verwöhnen ihn – und er bringt uns immer noch zum Lachen.«
Das Schicksal von Guy Galboa Dalal, der vom Nova-Festival entführt wurde, zeige die gezielte Grausamkeit der Hamas, so sein Bruder Gal. Er und andere seien »monatelang ausgehungert worden, um wie ›Reklame für Haut und Knochen‹ auszusehen, sagte die Hamas«. Dadurch leide Guy an extremen Muskelschmerzen. »Er will uns beruhigen. Er lächelt, aber er leidet sehr.«
Auch schwarzer Humor trägt zur Erleichterung bei
Matan Zangaukers Mutter Einav sagt, ihr Sohn habe dreckiges Salzwasser trinken müssen, doch seine Arabischkenntnisse benutzt, um mit den Wachen zu kommunizieren. Ab und zu durfte er fernsehen und habe ihre Auftritte auf dem Platz der Geiseln verfolgen können. »So wusste er, dass ich niemals aufhören würde, für ihn zu kämpfen.« Als der 25-jährige Matan seine Mutter beim emotionalen Wiedersehen umarmte, sagte er zu ihr: »Ich habe gehört, du hast eine ganze Menge getan«, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrachen. Auch schwarzer Humor trägt zur Erleichterung bei: Zusammen mit seiner Freundin Ilana Gritzevsky, auch sie eine ehemalige Geisel, müsse er nun für die Befreiung der verbleibenden toten Geiseln Straßen blockieren, trug ihm seine Mutter auf – »sonst schicke ich euch beide zurück nach Gaza«.
Geradezu übermenschliche Stärke und Ausdauer ziehen sich wie ein roter Faden durch alle Berichte. Ob sie Kraft aus dem Glauben, den Stimmen der Familie aus einem knisterndes Radio oder dem eigenen Willen schöpften, jeder Überlebende hat die Gefangenschaft in Gaza mit Narben auf der Seele verlassen. Inmitten des Schmerzes gibt es aber auch Klarheit, wie der 21-jährige Rom Braslavski beweist: »Sie wollten uns brechen, aber sie konnten es nicht. Wir sind noch hier – und wir werden auch die restlichen Geiseln nach Hause bringen.«