Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Sohrab wirklich bemerkte. Im Herbst 2022 antwortete er mir das erste Mal auf eine Instagram-Story aus Tel Aviv: »Deine Fotos sind wirklich toll.« Kurz danach schrieb er mir wieder: »Die besten Wünsche für dich, deine Familie und deine Freunde«. Als ich etwas darüber postete, dass der iranische Präsident Ibrahim Raisi Beweise für den Holocaust fordere, antwortete Sohrab: »Der idiotischste Präsident der Welt und das idiotischste Regime. Leider leben wir unter ihrer Kontrolle.«
Da wurde ich das erste Mal stutzig. Schrieb Sohrab mir tatsächlich aus dem Iran? Mir, deren Instagram-Account »gutenmorgentelaviv« hieß? Ein paar Monate später, nach einigen anderen Nachrichten, dann diese hier: Er habe sich meinen Roman Frei als eBook besorgt und lese ihn nun mithilfe eines Übersetzungsprogramms. Ich freute mich und empfahl ihm auch meinen Roman Alef (…). »Alef ist der erste Buchstabe im persischen Alphabet«, schrieb Sohrab zurück. Alef ist auch der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet, dachte ich überrascht und antwortete nicht.
Teheran ist 1919 Kilometer von Tel Aviv entfernt
Teheran ist 1919 Kilometer von Tel Aviv entfernt und damit deutlich näher als Berlin oder London. Einem »Fan« aus Berlin oder London hätte ich sicher sofort geantwortet. Aber dieser Typ aus dem Iran, mit seinem merkwürdig formellen, fast altmodischen Englisch, der kam mir suspekt vor. Umso mehr, als ich begriff, dass Sohrab kein Exiliraner ist, sondern immer noch, während er mir schrieb, in Teheran lebte. Zwischen uns mochten »nur« 1919 Kilometer liegen, aber in Wirklichkeit lebten Sohrab und ich an den zwei Polen der aktuellen politischen Weltgeschichte. Israel hat viele Feinde. Aber nur einen wie den Iran. Ein Land, in dem etwa 200.000 Israelis ihre Wurzeln haben und das trotzdem seit der Islamischen Revolution (1979) zum größten Feind des jüdischen Staats wurde.
(…) Von nun an galt Israel als »Krebsgeschwür«, das entfernt werden müsse. Auch die Nachfolger Khomeinis stimmen voll und ganz in diese Rhetorik ein. Aber der iranische Hass auf Israel beschränkt sich nicht auf Hassreden, seit vielen Jahren schon führt der Iran einen Stellvertreterkrieg gegen den jüdischen Staat. Wenn man in Israel über Palästinenser spricht, ja selbst über den Libanon, dann sind das unsere Nachbarn, die uns immer wieder angreifen. Es geht um Land. Es geht um Jahrzehnte von Tausenden kleinen und großen Wunden, die man einander zugefügt hat. Und ja, es geht auch um Weltbilder, um den Kampf gegen Extremisten.
In Wirklichkeit lebten wir beide an den zwei Polen der aktuellen politischen Weltgeschichte.
Aber immerhin mit Menschen, die man schon mal irgendwie gesehen hat. Wenn man hingegen über den Iran spricht, dann ist das Gefühl viel abstrakter. Der Iran wirkt auch deshalb auf viele Israelis so bedrohlich, weil man nicht recht versteht, wie ein Regime, mit dem man nicht einmal eine Grenze teilt, so sehr auf die Vernichtung hinarbeiten kann, wie der Iran es bei Israel tut.
Dass Sohrab mir freundlich aus Teheran schrieb, kam mir aber nicht deshalb suspekt vor, weil ich glaubte, dass uns alle Iraner hassen, sondern eher deshalb, weil ich nicht fassen konnte, dass jemand ein solches Risiko einging. Allein Israel online zu unterstützen, ist im Iran ein Verbrechen. Geschweige denn, Kontakt zu einer israelischen Staatsbürgerin zu haben. Erst im Dezember wurden drei Männer und eine Frau wegen »Kollaborationen mit dem zionistischen Regime« gehängt. Aber da war er. Sohrab aus Teheran. Und er schrieb mir, Katharina aus Tel Aviv.
Nachdem ich seit Juli 2022 nichts mehr von Sohrab gehört hatte, erreichte mich Anfang November 2023 folgende Nachricht von ihm: »An diesen Tagen denke ich immer an dich und deine Familie. Passt auf euch auf. Ich wollte nur sagen, dass ich nicht euer Feind und dass ich im Herzen bei euch bin. Es tut mir leid, was passiert ist. Und es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um diese Nachricht zu schicken.«
Ich las sie mehrere Male. Selbst viele meiner deutschen Freunde hatten es nach dem 7. Oktober 2023 nicht geschafft, mir so eine empathische Nachricht zu schicken. (…) Und hier war Sohrab. Anfang 30. Iraner. Und er schrieb mir die mitfühlende Nachricht, die so wenig andere geschickt hatten.
Angst vor dem iranischen Terrorregime – und Angst vor dem Terror der Hamas
Ich begriff, dass Sohrab und ich im Prinzip mit dem gleichen Feind kämpften. Er mit der Angst vor dem iranischen Terrorregime, das sein eigenes Volk unterdrückt und seit Dezember 2023 Regimekritiker und Freiheitskämpfer mehr denn je hinrichten lässt. Und ich mit der Angst vor dem unfassbaren Terror der Hamas, der ohne das iranische Regime so nicht möglich wäre.
Während fast alle Bewegungen, mit denen ich mich in den letzten Jahren solidarisiert hatte, von MeToo über LGBTQIA+ bis Black Lives Matter, nach dem 7. Oktober schwiegen oder sich sogar gegen Israel wandten, waren die Vertreterinnen und Vertreter der iranischen »Women Life Freedom«-Bewegung die Ersten, die an unserer Seite standen. Sie und die Exil- Jesidinnen – die wenigen aktivistischen Gruppen, die wohl wirklich aus eigener schmerzhafter Erfahrung verstehen, was der Dschihad für unsere Welt bedeutet.
»Mein Herz ist auch gebrochen, mein Herz ist mit dir und deinem Land. Hier versuchen die Medien, unsere Hirne zu bombardieren, aber deine Storys zeigen mir die Wahrheit. Ich hoffe, dass alles besser wird«, antwortet mir Sohrab, als ich bei Instagram über die Gräueltaten des 7. Oktober schreibe.
Oft reagiert er auch, wenn ich Bilder und Geschichten der Menschen poste, die immer noch in den Händen der Terroristen in Gaza sind. Eines Tages frage ich ihn, ob er vielleicht auf E-Mails wechseln möchte, und er sagt sofort Ja. Jetzt beginnt unser Austausch erst richtig.
Tel Aviv, 24. Januar 2024
Hallo lieber Freund,
da sind wir also. Hier, in meinem und bald auch in deinem E-Mail-Posteingang. Ich hier in Tel Aviv. Du knapp 2000 Kilometer entfernt in Teheran. Ich habe heute nach deiner ersten Nachricht an mich auf Instagram gesucht, am 14. September 2022 hast du mir zum ersten Mal geschrieben.
Wie hast du mich da überhaupt gefunden? Am Anfang habe ich nicht kapiert, dass du tatsächlich im Iran lebst. Ich dachte, du müsstest im Exil sein, um mir zu schreiben. Denn immerhin lautet mein Accountname »gutenmorgentelaviv«, und in meiner Bio steht klar und deutlich, dass ich neben deutsch auch israelisch bin. Um ehrlich zu sein, war ich geschockt. Nicht, weil ich dachte, dass alle Iraner uns hassen, das dachte ich nie, das wäre ja viel zu einfach, nein, ich war geschockt, weil sich unsere Länder so furchtbar getrennt und weit voneinander entfernt anfühlen und das plötzlich nicht mehr waren.
Ich freue mich sehr, dass wir uns nun hier schreiben. Danke, dass du mir vertraust. Ganz ehrlich gesagt, ich habe so unendlich viele Fragen. Aber ich werde heute mit einer einfachen Frage anfangen: Was ist dein Lieblingsort in Teheran und warum?
Alles Liebe, Nina
(so nennen mich meine Freunde)
Hallo meine liebe Freundin,
ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich dich durch die Instagram-Seite der Künstlerin »Koketit« gefunden habe, ich liebe ihre Arbeit und folge ihr schon lange. Eines Tages hat sie etwas über dein Buch in ihrer Story gepostet. Alef oder Frei. (…)
Durch diesen Post bin ich auf deine Seite gekommen und habe angefangen, dir zu folgen. Bis zum 22. Dezember 2023. Als drei Freunde von mir (keine engen Freunde, aber trotzdem) in Teheran verhaftet wurden, bekam ich es mit der Angst zu tun. Also schränkte ich meine Verbindungen ein und entfolgte dir (und das tut mir jetzt leid). Aber ich habe trotzdem fast täglich deine Posts und Storys angesehen. Ich hatte immer den Wunsch, Freunde in Israel zu haben. Wir teilen in gewisser Weise ein Schicksal. Als ich ein Kind war, zwang das Regime uns, in der Schule jeden Tag »Nieder mit Israel« zu sagen. (…) Wenn die Schulleiterin mich ansah, bewegte ich nur meine Lippen, ohne zu sprechen! Ich wollte mich dem Hass nicht anschließen. Ich glaube nicht, dass wir Feinde sind. Und deswegen habe ich dir immer wieder geschrieben. Nach jeder Nachricht muss ich diese löschen. Ich kann also nicht wie du in unseren alten Nachrichten nachlesen. Was ich sehr schade finde.
Aber nun endlich zu deiner Frage zu meinem Lieblingsort in Teheran. Teheran ist eine große, überfüllte Stadt mit sehr hoher Luftverschmutzung. Aber trotzdem kann man hier einige Lieblingsplätze haben. (…) Ich habe drei Orte für dich ausgewählt:
Ein Mann, der seinen Hut verloren hat
Wenn ich dem Trubel der Stadt entfliehen möchte, ist der historische Tughrul-Turm eine fantastische Wahl. Er befindet sich im Südosten, einem ruhigen Ort. Der Turm wurde im 12. Jahrhundert (vor 900 Jahren) erbaut und sieht aus wie ein Mann, der seinen Hut verloren hat! Er hatte nämlich früher eine Kuppel, die wahrscheinlich durch ein Erdbeben zerstört wurde (Teheran ist immer in Gefahr, durch ein Erdbeben zerstört zu werden) und die nun fehlt. Ich liebe diesen Ort, weil ich denke, dass er ein Spiegel der Stadt ist. Er hat einen Teil von sich selbst verloren, genau wie Teheran! Teheran war früher sehr schön, voller Gärten und schöner Häuser, aber in den letzten 50 Jahren, vor allem in den letzten 20 Jahren, verwandelte die Stadt sich in einen Dschungel aus Wohnblöcken in schlechtem Zustand, die alle gleich aussehen.
Ein Fluss des Lebens
Ein weiterer Lieblingsort von mir befindet sich im Norden der Stadt. Um dorthin zu gelangen, muss ich zur tiefsten U-Bahn-Station der Stadt gehen (70 Meter unter der Erde). Wenn man von dort wieder an die Oberfläche gelangt, kann man direkt meinen Lieblingsort sehen: den Tajrish-Basar. Im Gegensatz zu dem ersten Lieblingsplatz, von dem ich dir schrieb, ist dieser hier immer voller Menschen. Wenn mir das Leben langweilig wird, kann der Tajrish-Basar meine Seele zurücksetzen und neu starten. Der Basar ist eine lange und enge Gasse. Oder anders ausgedrückt, er ist wie ein langer Fluss des Lebens. Voll von allem! Kleidung, Lebensmittel, Gewürze, einfach allem, was mit dem Leben zu tun hat!
Die längste Straße, ein Ort für alle meine Stimmungen
Neben dem Tajrish-Basar befindet sich ein Platz, und westlich davon beginnt die längste Straße der Stadt. Das ist ein Ort, den ich liebe, egal, wie meine Laune ist. Die Straße heißt Valiasr-Straße, vor der Revolution war sie auch als Pahlavi-Allee bekannt. Sie war einst von Platanen-Bäumen gesäumt. Jetzt hat sie die meisten Bäume verloren, aber im nördlichen Teil zwischen Parkway und Tajrish kann man sich immer noch an den hohen Platanen mit ihren weitverzweigten Ästen erfreuen. Nach 19 Kilometern erreicht die Allee den Bahnhof. Die längste Straße ist voll von nostalgischen Orten. Einige von ihnen, wie das Radio-City-Kino, waren das Herzstück der Modernisierung Teherans in den 60er- und 70er-Jahren. Leider sind sie heute verlassen oder stehen kurz vor dem Abriss.
Nun, meine liebe Freundin, jetzt habe ich über meine drei Lieblingsorte in Teheran geschrieben. Was ist mit dir? Ich würde gerne wissen, was deine Lieblingsorte in Tel Aviv sind. (…)
Ich freue mich darauf, deinen nächsten Brief zu lesen.
Meine besten Wünsche, Sohrab
Katharina Höftmann Ciobotaru und Sohrab Shahname: »Über den Hass hinweg. Briefe zwischen Tel Aviv und Teheran«. Blessing, München 2025, 272 S., 24 €