An Schlaf war für die Israelis in der Nacht zum Samstag nicht zu denken. Mehrere Male mussten sich Millionen in Schutzräume und Luftschutzbunker retten, als der Iran mehrere ballistische Raketensalven auf Israel feuerte. Drei Menschen kamen bei direkten Einschlägen ums Leben, Dutzende wurden verletzt, einige von ihnen schwer. In der Nacht zuvor hatte die israelische Armee (IDF) Atom- und Militäranlagen im Iran angegriffen.
Die staatliche iranische Nachrichtenagentur IRNA behauptete, Hunderte ballistischer Raketen seien als Vergeltung für Israels bisher größte Angriffe auf den Iran abgefeuert worden. Dabei seien die unterirdische Atomanlage in Natanz sowie weitere Atom- und Militäreinrichtungen zerstört und die obersten Militärkommandeure des Landes getötet worden.
Der Himmel über Israel wurde immer wieder von Lichtstreifen und Feuerbällen eintreffender Geschosse und heimischer Abfangraketen erhellt. Militärsprecher Effie Defrin erklärte, die meisten Raketen seien von der Luftabwehr abgefangen worden oder nicht bis ins Land gekommen. »Es gibt einige direkte Einschläge in Gebäuden, andere wurden durch Schrapnelle nach dem Abschuss getroffen«, führte Defrin aus.
Armee ruft auf, keine Aufnahmen von Einschlagsorten zu teilen
Die israelische Armee rief die Öffentlichkeit dazu auf, weder die Orte noch Aufnahmen der Raketeneinschläge zu veröffentlichen. »Der Feind überwacht die Aufnahmen, um seine Angriffsmöglichkeiten zu verbessern.«
Ein amerikanischer Beamter erklärte der Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Anonymität: »Ich kann bestätigen, dass die USA beim Abschuss von Raketen auf Israel helfen.« Details wurden nicht genannt.
Rund 80 Menschen seien bei den Angriffen gegen Israel verletzt worden, darunter drei Schwerstverwundete, die später ihren Verletzungen erlagen. Am späten Samstag wurden die Namen der ersten beiden Todesopfer bekanntgegeben: Yisrael Aloni (73) aus Rischon Lezion und Etti Cohen Engel aus Ramat Gan, die etwas über 60 Jahre alt war. Laut dem Rettungsdienst Magen David Adom wurden mehrere weitere Menschen schwer verletzt. Die übrigen erlitten leichte bis mittelschwere Verletzungen.
Die direkten Treffer in Wohngebieten im Zentrum des Landes durch iranische Raketen – offenbar mit massiven Sprengköpfen bestückt – richteten große Zerstörung an. Es waren heftige Explosionen zu hören, über mehreren Einschlagsstellen stieg Rauch auf.
Michael David, Leiter des Heimatfront-Kommandos: »Dies ist ein Ereignis von einem Ausmaß, das wir so noch nie erlebt haben.«
In einem Hochhaus, das von einem iranischen Geschoss getroffen wurde, berichteten die Bewohner von Panik und Durcheinander. »Wir wussten zuerst nicht, was geschieht, weil wir im Schutzraum waren, als wir einen unfassbar lauten Knall hörten. Das ganze Haus wackelte«, berichtete im öffentlich-rechtlichen Sender Kan eine Bewohnerin.
Rettungskräfte waren stundenlang vor Ort und suchten die zerstörten Teile des Gebäudes ab, um sicherzustellen, dass niemand eingeschlossen oder verschüttet war. »Dies ist ein Ereignis von einem Ausmaß, das wir so noch nie erlebt haben«, sagte der Leiter des Heimatfront-Kommandos der Armee in Tel Aviv, Michael David, anschließend.
Das Hochhaus befindet sich in der Nähe des Hauptquartiers der israelischen Armee, genannt Kiriya, im Zentrum der Stadt. Es wird angenommen, dass Teheran die militärische Einrichtung im Visier gehabt hatte.
Mehrere Gebäude sind völlig zerstört
In den frühen Morgenstunden des Samstags dann schlug eine weitere iranische Rakete in einem Wohngebiet in Rischon Lezion südlich von Tel Aviv ein. Das Frühwarnsystem hatte versagt, ein technischer Fehler, wie später bekannt wurde. Erst die Sirenen alarmierten die Bewohner. Zwei Menschen kamen ums Leben, mindestens 20 wurden verletzt. Mehrere Gebäude sind vollständig zerstört.
Eine Familie hatte sich im Kellergeschoss in Sicherheit gebracht, als die ballistische Rakete einschlug. Während das unterirdische Stockwerk intakt blieb, stürzte das Haus darüber ein. Die Rettungsdienste arbeiteten fieberhaft, um die Familie zu retten.
Als erstes wurde ein dreimonatiges Baby aus den Trümmern geborgen. »Ich sah es und konnte es direkt in meine Arme ziehen«, beschrieb Feuerwehrhauptmann Idan Chen. Das kleine Mädchen sei leicht verletzt worden. Während er daran arbeitete, die Angehörigen zu bergen, hätten er und seine Kollegen gehört, wie Menschen im Haus nebenan um Hilfe schrien. Gegenüber sei zur selben Zeit ein Feuer ausgebrochen. »Es war Chaos. Wir arbeiteten so schnell wir konnten, um alle in Sicherheit zu bringen.«
Der oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, hatte gewarnt, Israel stehe als Reaktion auf den in der Nacht zuvor gestarteten Angriff auf das Atomprogramm der Islamischen Republik ein »bitteres und schmerzhaftes« Schicksal bevor.
Israels Verteidigungsminister Katz: »Der Iran hat alle roten Linien überschritten, als er Raketen auf zivile Bevölkerungszentren feuerte.«
Verteidigungsminister Israel Katz drohte anschließend in Jerusalem, der Iran habe »alle roten Linien überschritten«, indem er Raketen auf zivile Bevölkerungszentren feuerte. »Wir werden die Bürger Israels verteidigen und dafür sorgen, dass das Ayatollah-Regime einen sehr hohen Preis für seine abscheulichen Taten zahlt.«
Der Nachrichtenkanal 12 zitierte eine anonyme israelische politische Quelle, die dem Iran mit verstärkten Angriffen drohe. »Der Iran wird einen unerträglich hohen Preis für den Beschuss ziviler Gebiete zahlen. Wir wissen, was Israel getroffen hat, und wir wissen, was Israel noch nicht getroffen hat. Und das ist der nächste Schritt.« Die Bemerkung könnte sich auf mögliche israelische Angriffe auf iranische Energie- und Infrastrukturziele beziehen.
Israel versucht, den Iran an der Urananreicherung zu hindern, die für die Herstellung von Atomwaffen erforderlich ist. Die iranische Führung, die geschworen hat, Israel zu zerstören, leugnet öffentlich immer wieder, Atomwaffen zu entwickeln, reichert Uran jedoch bis zu 60 Prozent an. Dies ist weit über das für die zivile Nutzung Notwendige hinaus und nur wenig von waffenfähigem Uran entfernt.
Der internationale Ben-Gurion-Flughafen bleibt bis auf Weiteres geschlossen
Am Morgen nach den Angriffen der Nacht schrieb die israelische Tageszeitung Yediot Aharonot: »Halach Ha’Kaitz« (Der Sommer ist dahin) und fügte eine Liste der Airlines hinzu, die ihre Flüge von und nach Israel für die nächsten Wochen und sogar Monate aussetzen. Am 1. Juli beginnen die Sommerferien im ganzen Land, viele Israelis haben schon seit Langem Auslandsreisen geplant.
Der internationale Ben-Gurion-Flughafen bleibe bis auf Weiteres geschlossen, gab die Flughafenbehörde am Freitag bekannt. Zuvor hatten heimische Gesellschaften ihre Flotten außer Landes gebracht, um die Flugzeuge zu schützen. Israel ist damit faktisch vom internationalen Flugverkehr abgeschnitten. Und was der Sommer bringt, das weiß im Moment niemand.
Der Samstag ist geprägt von der Suche nach ein bisschen Normalität - und der Sorge vor der nächsten Nacht. In den wenigen Cafés, die geöffnet sind, stehen Menschen Schlange für einen Kaffee, einen Sitzplatz und ein wenig Alltagsstimmung, aus der sie durch die Angriffe gerissen wurden. »Es ist die Realität, in die wir in Israel hineingeboren werden«, sagt ein junger Mann am Cafétisch achselzuckend. »Normal ist das nicht«, kontert seine Partnerin. Über einem Eiskaffee diskutieren sie über die neuen Warnmechanismen des Heimatfrontkommandos. Für Samstagnacht geht man von weiteren Raketensalven aus dem Iran aus.
Zwölf Kilometer weiter südlich in Rischon LeZion steht Eldad, in der einen Hand einen bauschuttverstaubten Koffer, in der anderen eine Tupperdose. »Um ein Uhr morgens, nach dem ersten Alarm, bin ich in die Küche gegangen und habe Kuchen gebacken, für Schabbat«, sagt der Mann. Aus dem Gedächtnis zitiert er das Rezept für das Pudding-Ahornsirup-Gebäck, das er jetzt an Sicherheitskräfte, Versicherungsgutachter und Passanten verteilt. »Als gegen fünf Uhr die Sirenen losgingen, bin ich in Unterhosen in den Schutzraum gelaufen. Die Druckwelle der Explosion hat mich in den Raum geworfen.« Nachbarn mussten ihn aus den Schuttteilen retten. Bis auf ein paar Kratzer habe er körperlich keine Schäden davongetragen. »Im Krankenhaus haben sie mir nach der Untersuchung gesagt, ich könne nach Hause gehen«, berichtet Eldad weiter. »Nur dass das Haus nicht mehr steht.«
Ein anderer Anwohner spritzt mit dem Gartenschlauch seine staubbedeckten Autos sauber. Vielleicht ein Versuch, Kontrolle über den Alltag zurückzugewinnen. Aber für die nächste Nacht werden neue Raketenwellen aus dem Iran erwartet. Der israelische Katastrophenschutz stimmt die Menschen darauf ein, dass es noch schlimmer werden könnte.
Samstagabend gegen 23 Uhr Ortszeit teilt das israelische Militär mit, es habe registriert, dass aus dem Iran erneut Raketen in Richtung Israel abgefeuert wurden. Kurz darauf: Raketenalarm in der Region Haifa.
(mit Andrea Krogmann und dpa)