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Das Judo-Imperium

»Hajime (Haschime)«, brüllt Sammy Horn immer wieder während des Judotrainings in einer Turnhalle in Bat Jam. Wie in allen traditionellen Kampfkünsten des Landes der aufgehenden Sonne ist das japanische Wort für »Anfang« ein Kommando, dass der Wettkampf beginnt.

In dem südlichen Vorort von Tel Aviv trainieren über 20 Senioren die Philosophie des »sanften Weges«, um das Prinzip des »Siegens durch Nachgeben« zu erlernen. Die Sportler setzen dabei ihre Techniken so effektiv wie möglich ein, damit sie mit wenig Aufwand ein maximales Ergebnis erreichen.

»Judo ist eine sehr vielseitige Kampfkunst mit unterschiedlichen Übungen«, sagt Horn, Schoa-Überlebender und Leiter des Seniorentrainings, der im selben Gebäude wohnt und die Sportart seit Jahren lehrt. »All dies führt dazu, dass man körperlich und geistig beweglich bleibt.« Der 87-jährige ehemalige Offizier des Grenzschutzes stammt ursprünglich aus Straßburg und überlebte als Einziger in seiner Familie das Konzentrationslager Buchenwald.

Wehrhaftigkeit Als er im Sommer 1945 das britische Mandatsgebiet Palästina erreichte, verfolgte er das Ziel, verschiedene Selbstverteidigungstechniken zu beherrschen, um als Jude nie wieder wehrlos zu sein. »In Judo wurde ich von dem berühmten Wissenschaftler und Kampfsportler Moshé Feldenkrais unterrichtet«, erklärt der Ex-Polizeibeamte und Schwarzgurt-Träger. »Zusätzlich erhielt ich auch eine Ausbildung zum Großmeister in Krav Maga von seinem Gründer Imi Lichtenfeld«, ergänzt er.

Doch während die israelische Kampfkunst mittlerweile die ganze Welt erobert, hat sich Judo in den vergangenen 30 Jahren zum Nationalsport des jüdischen Staates entwickelt. »Was wir in dem Bereich geleistet haben, ist erstaunlich«, erklärt Horn. »Israel ist mittlerweile ein Judo-Imperium.«

Als Geburtsstunde des israelischen Judos gelten die Olympischen Sommerspiele in Barcelona 1992.

Tatsächlich hat sich das kleine Land zu einer international anerkannten Nation in der eher friedlich gesinnten japanischen Kampfkunst entwickelt. Es war die Kombination aus den olympischen Erfolgen von 1992 plus die Einwanderung einer Vielzahl von Judo-Meistern aus der ehemaligen Sowjetunion, die dazu beitrugen, eine nationale Liebesaffäre mit dem Sport zu entfachen.

»Der Stellenwert von Judo war in Israel bei meiner Einwanderung noch nicht so hoch«, sagt Igor Romanitsky, der 1991 aus der Ukraine kam und in Modiin, einer Stadt zwischen Tel Aviv und Jerusalem, eine Kampfschule unterhält. »Ich hatte ein abgeschlossenes Medizinstudium und dachte, meine Karriere als Judoka sei vorbei.«

Anstatt eine Arztpraxis zu eröffnen, erkannte er die Möglichkeit, als Trainer die große Leidenschaft zum Sport weiterzubetreiben. Seine Geschichte zeigt, wie entscheidend die Alija für Israels Judoerfolg ist. Zwar haben viele der Pioniere – Einwanderer aus Europa und Afrika – zur Popularität des Judo im Land beigetragen, doch mit dem Zustrom von mehr als einer Million Neueinwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, wo Judo ein wichtiger Sport war, kamen viele Talente ins Land.

Medaillen Als Geburtsstunde des israelischen Judos gelten die Olympischen Sommerspiele in Barcelona 1992. Damals gewannen Yael Arad Silber und Oren Sma­dja Bronze. Es waren die ersten Medaillen für den jüdischen Staat. Dies führte zu einem landesweiten Boom, und mit den neuen Trainingsmethoden aus der ehemaligen Sowjetunion ließen internationale Erfolge nicht lange auf sich warten.

»Zusammen mit Pavel Musin, der mich in meiner Jugend in der russischen Kampfsportart Sambo unterrichtete, trainierten wir Alice Schlesinger, die seit 2013 sechs Goldmedaillen bei Europameisterschaften gewann«, erzählt Romanitsky.

Mit Alex Ashkenazi kam ein weiterer großer Coach ins Land. Zunächst als Teamchef Israels tätig, formte er ab 2004 Arik Zeevi zum vierfachen Europameister und brachte ihn bei der Weltmeisterschaft zur Silbermedaille und bei Olympia zu Bronze.

leidenschaft Die Leidenschaft, die Israel bei dem Gewinn der Medaillen bei den Olympischen Spielen von Rio 2016 sowie Tokio 2020 zeigte, führte zu einer weiteren Begeisterung im Land. »Zwar sind Fußball und Basketball noch immer die populärsten Sportarten, doch mittlerweile wollen die meisten Kinder Judo lernen«, erklärt der Kampfkunsttrainer. »Und auch wenn viele Talente nicht dem offiziellen israelischen Judoverband angehören, werden landesweit ständig Wettkämpfe veranstaltet.«

So fand 2018 zum ersten Mal die Judo-europameisterschaft in Israel statt. Die Veranstaltung in Tel Aviv war mit über 4000 Zuschauern gut besucht. »Solche Zahlen kennt selbst das Mutterland dieser Kampfkunst kaum«, sagte der japanische Judofunktionär Yashi Kobayashi am selben Ort während des zum ersten Mal im jüdischen Staat ausgetragenen Grand-Slam-Turniers im Februar. »In meiner Heimat war Israel immer als Hightech-Macht bekannt. Mittlerweile aber haben sie sich auch im Judo international einen Namen gemacht.«

»Judo hat auch Momente der geopolitischen Zusammenarbeit ermöglicht.«

Yashi Kobayashi

Die sportlichen Erfolge Israels führen manchmal aber auch zu unangenehmen Situationen mit einigen arabischen und muslimischen Athleten, deren Länder den jüdischen Staat grundsätzlich boykottieren oder mit ihm in einem politischen Streit stehen. Diese Sportler werden oft gezwungen, eine Verletzung vorzutäuschen, um nicht antreten zu müssen. Andere wiederum lehnen den obligatorischen Handschlag nach einem Kampf ab.

saeid mollaei Der Iraner Saeid Mollaei wollte sich dem nicht beugen. Als einer der weltbesten Judokas, der stets gute Beziehungen zu seinen israelischen Kollegen pflegte – besonders zu Sagi Muki, dem ersten israelischen Weltmeister –, musste er aus seiner Heimat fliehen. Er erhielt Asyl in Deutschland und tritt mittlerweile für die Mongolei an. Mollaei besuchte Israel 2021 und bedankte sich beim Publikum mit einem »Toda« für die freundliche Unterstützung. Auch seine olympische Silbermedaille von Tokio widmete er dem jüdischen Staat.

»Leider wird Politik oft mit Sport vermischt«, erklärte Kobayashi während des Wettkampfes in Tel Aviv. »Doch Judo hat auch einige Momente der geopolitischen Zusammenarbeit ermöglicht, wie 2018 beim Grand-Slam-Turnier in Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten.«

Tatsächlich war es das erste große Sportereignis in einem arabischen Land, bei dem israelische Athleten unter ihrer Flagge auftraten und die Hatikva gespielt wurde. »Judo ist ein Botschafter des Friedens«, so der Funktionär.

Selbstausdruck Dies ist auch das Motto von Sammy Horn. Für den pensionierten Polizeibeamten, der Senioren in Bat Jam unterrichtet, ist die Philosophie des »sanften Weges« keine Macht, die eine Person einschränken oder einer anderen aufgrund seiner Größe Vorteile verschaffen sollte, sondern die bequemste Bewegung für den menschlichen Körper. »Überhaupt ist Kampfkunst die höchste Ebene des menschlichen Selbstausdrucks«, erklärt Horn. »Mein Leben lang habe ich meine Energie der Judo-Leidenschaft gewidmet.«

Mit der Unterstützung von Trainern aus der ehemaligen Sowjetunion schaffte es Horn, den Sport auf ein höheres Niveau zu heben und in diesem Prozess zahlreiche Schüler erfolgreich zu unterrichten. Wie die Selbstverteidigung zur Staatsräson Israels gehört, ist sie für ihn auch essenziell für jeden Bürger. »Als Judo-Coach war es immer mein Ziel, die Schüler besser zu machen, als es ihr Trainer ist«, erzählt Horn. Wie er sagt, zitiert er beim Erlernen einer Kampfkunst immer einen Satz aus der Tora: »Tu mehr, um dich selbst zu beeindrucken, anstatt zu reden, um andere zu entzücken.«

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