Sderot

Bedrohte Psyche

Zehn Minuten sollen die Menschen nach dem Alarm im improvisierten Schutzraum bleiben. Foto: Flash 90

In dem kleinen, freundlich eingerichteten Hummus-Restaurant in der Herzlstraße in Sderot essen einige Menschen zu Mittag. Plötzlich taucht ein großer Mann in einem grünen OP-Outfit aus dem Krankenhaus auf und schaut sich um. »Was ist passiert?«, fragt die Bedienung mit gepresster Stimme. »Ich suche nach einem Platz«, antwortet der Mann irritiert. Ein Aufatmen geht durch den Raum, alle essen weiter. Nur die Bedienung kann sich nicht beruhigen: »Ich halte das nicht aus.« Die junge Frau ist erst vor Kurzem wieder nach Sderot zurückgekehrt. »Ich kann mich an diese Bedrohung hier nicht mehr gewöhnen.«

15 Sekunden bleiben den Bewohnern, um in einen Schutzraum zu fliehen, wenn die Sirene ertönt. Dann erfolgt der Einschlag der Rakete. Der Gazastreifen ist nur wenige Kilometer entfernt, und in Zeiten wie diesen ist die rund 25.000 Einwohner zählende Stadt im Fokus der Angriffe. Seit Mitte Juni hat die Hamas Hunderte Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert, ein guter Teil landete in der Stadt und in der Umgebung.

explosionen Die Sirenen ertönten in den vergangenen Tagen außer in Sderot regelmäßig auch in Aschkelon, Aschdod oder Beer Sheva. Dort waren auch die Explosionen zu hören, wenn das »Iron Dome«-System die Raketen abfing. Regelmäßig schlugen Geschosse in Wohngebieten in Sderot ein, trafen etwa ein Studentenwohnheim oder ein Einfamilienhaus, eine hätte beinahe eine Kindertagesstätte getroffen. Menschen werden meist nicht körperlich verletzt. Seelisch schon.

»Die Nachbarin der Familie, deren Haus beschädigt wurde, rief mich an«, erzählt Yehudit Bar-Chay. Sie wisse nicht mehr, was sie mit ihrem Sohn machen solle. Er verhalte sich merkwürdig, zittere und lasse sich nicht beruhigen. »Ich bin zu ihr gegangen und habe sozusagen Erste Hilfe geleistet«, sagt die Mitarbeiterin von NATAL, einem Zentrum mit Sitz in Tel Aviv, das Menschen mit posttraumatischem Stress zur Seite steht. Neben Therapeuten, die in speziellen Einrichtungen arbeiten, gibt es eine mobile Truppe, zu der Yehudit Bar-Chay gehört und die mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland aufgebaut worden ist. Deren Mitarbeiter sind meist als Erstes im Einsatz, weil sie vor Ort sind. So auch Yehudit. »Ich wohne hier in der Nähe von Sderot in einem Kibbuz.«

Trauma Der erste Schritt sei stets, die Betroffenen zu beruhigen. »Das findet natürlich je nach Alter auf unterschiedliche Weise statt«, sagt die warmherzige, aber auch resolute Frau. Mit Kindern könne man spielen, mit ihnen backen, ihnen kleine Aufgaben geben. Nachrichten im Fernsehen sind tabu: Dort zeigten sie 15-mal dasselbe Haus, das von der Rakete getroffen wurde.

Nur: »Kinder denken, es seien 15 verschiedene Häuser.« Wichtig sei, dass die Eltern sich mit ihnen beschäftigen: »Das gibt ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Sicherheit.« Genau das sei oft ein Problem in der heutigen Gesellschaft, da viele Eltern vor lauter Geldsorgen und Arbeit sich nicht mehr mit den Kindern beschäftigen. »Und die rennen dann im Kreis herum wie Hamster.«

Manchmal kommt Bar-Chay in ein Haus, weil die Mutter wegen des Kindes angerufen hat. Dann stellt sich heraus: Sie selbst ist traumatisiert. »Dann geht es darum, klarzumachen, dass ihre Angst normal ist, nicht aber die Situation hier.« Sie sagt den Betroffenen: »Es ist eine natürliche Reaktion des Körpers, dass du vor Angst zitterst.« Die Nerven seien angespannt und müssten sich lockern, sonst zerreißen sie. Bar-Chay singt ein Lied, das die Leute meist zum Lachen bringt: »Tirad, tirad, ata lo tirad l’ad« (Du zitterst, du zitterst, aber nicht in alle Ewigkeit). Kindern sagt sie, sie sollen den Sportlehrer spielen: »Springe, hüpfe, tanze und singe.«

Fragen Die Fragen, die sie gestellt bekommt, scheinen manchmal banal, etwa: »Was machen wir nachts?« Yehudits Antworten darauf sind einfach: »Bleib im Schutzraum, stell einen Ventilator auf und schlaf auf dem Boden.« Was ist mit der Großmutter, die nicht mehr reagiert und wie ein Embryo im Bett liegt? »Setz dich neben sie und streichle ihre Hand. Sei still.« Es gebe auch Situationen, da reiche die Zeit eben nicht mehr, um zum Schutzraum zu rennen, »wenn etwa jemand unter der Dusche steht«. Da könne man nur noch hoffen, sagt sie, lacht und erklärt: »Ja, Lachen gehört auch dazu, anders geht es nicht.«

In den vergangenen Wochen haben die Mitarbeiter von NATAL in Tel Aviv Hunderte von Anrufen auf ihrer eigens eingerichteten Hilfe-Hotline erhalten, sagt Michal Erlich. Derjenige, der am Telefon ist, bleibt auch in Zukunft verantwortlich für den Hilfesuchenden. »Wir vermeiden Wechsel, um Vertrauen zu schaffen.« Oft helfen schon ein paar Gespräche, und viele Symptome verschwinden, wenn der unmittelbare Raketenbeschuss aufhört.

Aber das gilt nicht für alle. In einer von NATAL in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2011 mit 517 Erwachsenen und 570 Kindern stellten Wissenschaftler fest, dass 70 Prozent der Kinder in Sderot als Ergebnis des fortgesetzten Raketenbeschusses unter mindestens einem posttraumatischen Stresssymptom leiden. Ein Drittel der Bewohner leidet unter Angstzuständen. Nicht nur das allein ist schon grausam, sondern auch die weiteren Konsequenzen daraus: Durch die psychischen Schäden brechen Familien auseinander, werden Menschen arbeitslos, Kinder versagen in der Schule.

Anweisungen Das Verteidigungsministerium hatte zu Beginn der Sommerferien Anweisungen für die Bevölkerung erlassen. Bewohner dieser Gebiete müssen nach dem Ertönen der Sirenen die Schutzräume innerhalb von 15 Sekunden aufsuchen. Ansammlungen von mehr als 300 Menschen wurden untersagt. Alle Sommercamps, Kindergärten und Schulen blieben geschlossen, es sei denn, den Kommunen gelang es, gesicherte Gebäude bereitzustellen.

Yehudit fährt zum nächsten Termin – ein Treffen mit Vertretern der anderen therapeutischen Zentren in Sderot. »Wir kooperieren natürlich.« Es ist heiß, und die Straßen sind leer. Der Tag war ruhig. Aber die zahlreichen Schutzräume an den Straßen erinnern daran, wie präsent die Bedrohung hier ist. »Sie kommt wie eine Monsterwelle in einer ruhigen See«, sagt Yehudit. »Und sie verschluckt dich.«

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