Kaum waren die ersten Töne erklungen, setzte der Regen ein. So stark prasselte er auf die Dachterrasse des Axel-Springer-Verlags in Berlin, dass das Solidaritätskonzert für die Geiseln der Hamas am Montagnachmittag nach zehn Minuten abgebrochen werden musste. Anschließend wurde es in den Newsroom der »Welt« im fünften Stock verlegt.
Mehrere Angehörige von Verschleppten waren nach Berlin gekommen - wie der Vater des israelischen Soldaten Tamir Nimrodi (20), von dem es seit dem 7. Oktober 2023 kein Lebenszeichen gibt, und der Onkel des Pianisten Alon Ohel (24).
An den jungen Musiker aus Israel erinnerte am Montagnachmittag das »gelbe Klavier« auf der Dachterrasse in Berlin – gespielt von der Pianistin Yael Front, die das Konzert mit dem Stück »Bring him home« aus Les Misérables einleitete. Alon Ohel war am 7. Oktober von Hamas-Terroristen beim Nova-Festival im Süden Israels entführt worden. Um auf seine Geschichte aufmerksam zu machen, stellte seine Familie in Tel Aviv das »Yellow Piano« auf – ein öffentlich zugängliches Klavier, das Menschen einlädt, darauf zu spielen und dadurch Hoffnung und Solidarität mit Alon Ohel auszudrücken.
Mit dem Konzert und den anschließenden Statements wiesen die Angehörigen und der Springer-Verlag darauf hin, dass seit 640 Tagen immer noch sieben Geiseln mit deutschem Pass von der Terrororganisation Hamas in Gaza festgehalten werden. Neben Tamir Nimrodi und Alon Ohel sind es Tay Chen (20), Tamir Adar (38), Gali und Ziv Berman (27) und Rom Braslavski (21).
Insgesamt befinden sich seit dem 7. Oktober 2023 noch 50 Menschen in der Gewalt der Terroristen. Es wird davon ausgegangen, dass mindestens 20 von ihnen noch am Leben sind. Die Hamas hatte bei ihrem Überfall vor fast zwei Jahren auf Israel mehr als 1000 Menschen ermordet und 251 nach Gaza verschleppt. Die meisten von ihnen waren nach Geiseldeals mit der Hamas im November 2023 und Anfang 2025 freigelassen worden.
»Wir sind nicht nur Zuhörer – wir sind Ihre Stimme«, sagte Jan Philipp Burgard
Nach dem kurzen Konzert in Berlin, bei dem auch die Journalistin und Violinistin Dorothea Schupelius auftrat, dankte Jan Philipp Burgard, Chefredakteur der WELT Gruppe, den Angehörigen der Geiseln für ihren Mut, ihre Geschichten zu erzählen. »Wir sind nicht nur Zuhörer – wir sind Ihre Stimme«, versicherte er. Anschließend sprachen die Politikberaterin Melody Sucharewicz und der Gesandte und stellvertretende israelische Botschafter in Berlin, Guy Gilady. Danach hatten die Angehörigen der Geiseln das Wort.
»Ich stehe hier vor Ihnen, um über Alon Ohel zu sprechen«, sagte Shachar Ohel, Onkel des entführten Pianisten. »Ich spreche in seinem Namen, weil seine Stimme nicht gehört werden kann. Alon ist ein deutscher Bürger, er ist 24 Jahre alt, ein schöner junger Mann, mit Liebe zum Leben und einem ständigen Lächeln. Vor 640 Tagen wurde er am 7. Oktober 2023 vom Nova-Musikfestival entführt.« Seit diesem Tag warte sein offenes Klavier auf ihn. »Wir sind davon überzeugt, dass jedes Klavier, das in Gedanken an ihn gespielt wird, ihm Energie schicken kann, um in seiner schrecklichen Situation zu überleben.«
Anfang Februar 2025 hätten zwei von der Hamas freigelassene Geiseln ein Lebenszeichen von Alon Ohel übermittelt, gleichzeitig aber auch über seinen besorgniserregenden Gesundheitszustand gesprochen. »In diesem Jahr haben wir uns an den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz erinnert.« Sein eigener Großvater sei aus dem größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager befreit worden, berichtete Shachar Ohel. »Er wog 38 Kilogramm.« Heute müssten seine Nachkommen für das Leben von Alon Ohel kämpfen, der den Berichten aus Gaza zufolge in einer nicht weniger lebensbedrohlichen Verfassung sei.
»Aber trotz dieser unvorstellbaren Ähnlichkeit zwischen diesen Fällen sind wir heute an einem anderen Ort. Als Familie, als Volk, als Gesellschaft. Wir haben die Kraft, die Situation zu verändern. Wir haben die Fähigkeit, den nötigen Druck auszuüben, um Alon und die anderen Geiseln zu retten. (…)« An die Deutschen appellierte er: »Helfen Sie uns. Bringen Sie sie alle nach Hause.«
Nach dem Onkel von Alon Ohel sprach Yael Adar, Mutter von Tamir Adar, der am 7. Oktober 2023 ermordet wurden und dessen Leichnam von der Hamas in Gaza festgehalten wird. Ohne ein Begräbnis des Sohnes in Israel könne die Familie seinen Tod nicht verarbeiten und nach vorne schauen, betonte die Mutter von vier Kindern.
»Alle Menschen in Deutschland sollten die Namen der deutschen Geiseln kennen«, betonte der Vater des entführten Tamir Nimrodi (20).
Dann trat Liran Berman ans Mikrofon. »Ich bin der ältere Bruder der Zwillinge Gali und Ziv Berman, die beide am 7. Oktober aus dem Kibbuz Kfar Aza entführt wurden.« In einem Tunnel unter dem Schifa-Krankenhaus in Gaza seien die Zwillinge voneinander getrennt worden. Anfang dieses Jahres habe es wieder ein Lebenszeichen von ihnen gegeben, sagte der Israeli. »Wir leben im Bewusstsein, dass meine jüngeren Brüder immer noch am Leben sind.« Beide seien Fußballfans – unter anderem von Borussia Dortmund und Maccabi Tel Aviv, erzählte Berman wie nebenbei. »Wir vermissen sie sehr. Wir brauchen Ihre Hilfe.«
Alon Nimrodi, Vater von Tamir Nimrodi, war in Begleitung seine Tochter nach Berlin gekommen. »Tamir ist jetzt die jüngste Geisel in Gaza. Im Alter von 18 Jahren wurde er entführt. Im November haben wir zum zweiten Mal seinen Geburtstag gefeiert, während er in Gefangenschaft war«, sagte der Vater. »Er ist die einzige Geisel, deren Schicksal unbekannt ist.« Die Hamas habe seinen Sohn, einen Soldaten, am 7. Oktober 2023 in gutem Gesundheitszustand entführt. Seine beiden mit ihm zusammen entführten Freunde seien tot aufgefunden worden.
Ein Deal muss alle 50 Geiseln zurück nach Hause bringen, fordern die Angehörigen
»Unsere Angehörigen sind Deutsche«, unterstrich Alon Nimrodi. »Alle Menschen in Deutschland sollten die Namen der deutschen Geiseln kennen. Es sind sieben deutsche Geiseln! Wir müssen alles tun, was wir können, damit es einen Deal gibt, der alle 50 Geiseln zurück nach Hause bringt.«
Auf eine Frage der Jüdischen Allgemeinen nach Ende der Veranstaltung sagte Alon Nimrodi, er hoffe sehr, dass es nach dem Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in Washington zu einem erneuten Geiseldeal kommen werde. »Unsere Forderung als Familienangehörige ist es, dass alle 50 Geiseln befreit werden und nicht nur ein Teil von ihnen, wie bei den vorherigen Deals.«
Israel müsse den Sieg im Krieg gegen den Iran nutzen, um jetzt darauf zu bestehen, dass alle Geiseln befreit werden. »Wenn Bibi will, wird das auch passieren.« Bis jetzt sei der israelische Ministerpräsident aber eher an seinem eigenen politischen Überleben interessiert gewesen, so die Einschätzung von Alon Nimrodi, Vater des entführten 20-jährigen Tamir.
Streit um garantiertes Kriegsende
Während in Berlin für die Geiseln gespielt wurde, traf sich Netanjahu mit Trump in Washington D.C. zu Gesprächen über eine mögliche Waffenruhe mit den Terroristen der Hamas. Die USA hatten vergangene Woche eine 60-tägige Waffenruhe vorgeschlagen, die auch die Freilassung von 28 Geiseln und Gespräche über ein Ende des Krieges vorsah.
Israels Ministerpräsident hatte dem Vorschlag zugestimmt, die Hamas forderte am Wochenende allerdings einige Änderungen, etwa den weiträumigen Rückzug israelischer Truppen und eine Garantie, dass der Krieg auch nach Ablauf der Waffenruhe nicht weitergehe. Für Netanjahu waren diese Bedingungen inakzeptabel. Der Regierungschef verlangt die Entwaffnung der Hamas und will ihre Anführer ins Exil schicken. Sein erklärtes Ziel ist, dass die Terroristen keine Massaker wie jene vom 7. Oktober 2023 mehr begehen können.
Der Angriff der Terrororganisation Hamas mit mehr als 1000 Toten und 251 Verschleppten war der Auslöser des Krieges im Gazastreifen. Dabei sollen nach Angaben der Hamas inzwischen mehr als 50.000 Palästinenser getötet worden sein. Diese Zahlen sind nicht unabhängig überprüfbar und unterscheiden nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten. Israel spricht von mindestens 20.000 getöteten Hamas-Terroristen.
In der katarischen Hauptstadt Doha gehen derweil die indirekten Gespräche zwischen der Hamas und Israel weiter.