Erkundung

1100 Kilometer für die Diplomatie

Die Karte hängt an der Tür seines Büros. Jeder gewanderte Abschnitt ist farbig markiert. Ein wenig stolz scheint der deutsche Botschafter Steffen Seibert schon, als er auf die Regionen zeigt, die er bereits durchwandert hat. Schließlich hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Botschaft und auch er selbst zuerst nicht daran geglaubt, »dass ich das wirklich durchziehe«. Doch mittlerweile ist er bei Wanderweg Nummer 17 angekommen – und hat Lust auf mehr.

Seibert ist also unter die Wanderer gegangen, eine Leidenschaft, die für ihn erst in Israel begann. Sein Ziel ist ein Großes: den israelischen Nationalpfad, genannt »Schwil Israel«, einmal komplett abzulaufen, er ist immerhin fast 1100 Kilometer lang.

Die Idee entstand in der Dusche

»Die Idee kam mir ganz klassisch unter der Dusche. Ich überlegte, was ich persönlich tun kann, über die formellen und offiziellen Dinge hinaus, die wir zum 60. Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel unternehmen.« Seibert wollte seine »Liebe zu diesem Land ausdrücken, die auch eine physische Zuneigung zu den Landschaften ist«.

Gleichzeitig habe er etwas finden wollen, dass das Mosaik Israels mit seiner jüdischen Mehrheit, religiös und säkular, der großen Zahl an Muslimen, Beduinen und Drusen sowie Christen abbildet. So kam ihm der Wanderweg in den Sinn, der sich von Nord nach Süd schlängelt. »Für die Juden ist es das Land ihrer Vorväter, und es war jahrhundertelang der Ort ihrer Sehnsucht, nach dem Motto ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹. Auch die Araber, Christen oder Drusen sind hier tief verwurzelt und zu Hause.« Und über diese Wurzeln wollte er mehr erfahren.

Bis auf die obersten zwei Etappen im Norden, »die in den besetzten Golanhöhen liegen«, möchte er alle Abschnitte auf der Karte erkunden. Über 50 sind es insgesamt, angefangen vom Hermon im Norden bis zum Almog-Strand in Eilat am Roten Meer.

Start an Ben Gurions Grab

Gesagt, getan. Begonnen hat der Botschafter ganz bewusst in Sde Boker in der Negevwüste am Grab von Staatsgründer David Ben Gurion. »Denn Ben Gurion war auf israelischer Seite der Vater der deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen. Er hatte sie eingeleitet und zusammen mit Konrad Adenauer erst möglich gemacht.« Und hier in Sde Boker hatte Ex-Kanzler Adenauer, inzwischen 90-jährig, am 9. Mai 1966 Ben Gurion, den 79-jährigen ehemaligen Ministerpräsidenten, in seinem Altersruhesitz noch besucht.

Die Wege sind unterschiedlich lang. Mal sind es acht Kilometer, mal bis zu 25. Doch auch die kurzen Strecken haben »es manchmal richtig in sich«, berichtet Seibert von seiner Wanderschaft. Besonders herausfordernd sei die erste Etappe gewesen. »Wir mussten richtig klettern, und für jemanden wie mich, der etwas mit Höhenangst zu kämpfen hat, war das schon eine Überwindung.«

Ein anderes Mal, als er mit dem Politiker Matan Kahana in den Jerusalemer Bergen unterwegs war, habe es wie aus Eimern geschüttet. »Wir waren völlig durchnässt, und dazu hatte Matan, der früher in Spezialeinheiten der israelischen Armee gewesen war, ein sehr zackiges Tempo drauf. Er hat uns immer wieder von vorn zugerufen: ›Umkehren ist keine Option.‹« Noch heute muss der Botschafter darüber lachen. »Das war ein strammer Marsch wie beim Militär, ich fand es toll.«

Wandern ist »gut fürs Ego«

Um den Tag voll nutzen zu können, macht er sich früh auf den Weg, verlässt meist um vier Uhr morgens das Haus, »damit wir um sechs oder halb sieben loslegen können«. Seibert bezeichnet sich als »flotten Wanderer« und hält auch nichts von langen Pausen. »Kurze Pausen müssen sein, aber lange machen nur müde. Ich bin meist derjenige, der sagt: ›Lasst uns wieder los.‹« Wandern sei übrigens »gut fürs Ego«, findet er. »Ich bin ja nun schon älter, da beruhigt es mich, dass auch Mittdreißiger aus der Puste kommen.«

Die Landeserkundung auf Schusters Rappen sei allerdings nicht primär eine Freizeitbeschäftigung, sondern eben ein Beitrag zum 60. Jubiläum der diplomatischen Beziehungen und damit auch Teil seiner Arbeit. »Wir führen Interviews, die wir auf Facebook veröffentlichen, drehen Videos für die Plattformen X und Instagram, die sehr gut laufen, und müssen alles bearbeiten«, sagt er. »Aber okay, ich gebe zu, es macht auch Riesenspaß.«

»Auch die kurzen Strecken haben es oft in sich«, berichtet Seibert von seinem Wandern.

Diesen Spaß hat er nicht allein. Neben einem kleinen Team aus der Botschaft begleitet ihn bei jedem Abschnitt ein Israeli oder eine Israelin, die er in seinen fast drei Jahren hier kennenlernte. »Als Botschafter habe ich ja das Glück, das Land in seiner ganzen Breite wahrzunehmen und die unterschiedlichsten Menschen zu treffen. Beim Wandern erlaube ich mir, Personen mitzunehmen, die mir sympathisch sind, nicht notwendigerweise politisch, sondern menschlich sympathisch. Sonst geht man sechs, sieben Stunden nebeneinanderher und hat sich nichts zu erzählen.«

Mit der Journalistin Ilana Dayan wanderte Seibert vom Kibbuz Tzuba bis nach Sha’ar Hagai in der Nähe von Jerusalem, mit dem Leiter des Benediktinerklosters Tabgha, Pater Josef San Torcuato, entlang des Kinneret. »Jeder hat irgendetwas, das ihn oder sie besonders und interessant macht«, findet der Botschafter. Das versucht er in kurzen Interviews herauszufinden. So fragte er den Beduinen Othman Alshekh, mit dem er die Gegend der nördlichen Negevwüste erkundete, wie es sich für seine beduinischen Kollegen anfühle, tagsüber Softwareingenieure in einem Hightech-Start-up zu sein und abends in ihre nicht anerkannten Dörfer ohne Infrastruktur und oft auch ohne Internet zurückzukehren.

Die Künstlerin Michal Rovner wiederum habe »alle 30 Meter etwas Neues, eine Pflanze, einen Anblick, eine Perspektive entdeckt und angehalten«, erinnert er sich. »Entsprechend haben wir für einen Kilometer dreimal so lange gebraucht wie sonst«, so der Botschafter schmunzelnd. »Aber es war sehr inspirierend.«

Der Schwil steht für die Vielfalt Israels

Seibert, der sich für die Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas in Gaza einsetzt, ist auch mit einem Angehörigen gewandert: Daniel Lifshitz. Dessen Großmutter Yochevet kam frei, der Großvater Oded wurde in Gaza ermordet. »Ich mag und bewundere Daniel sehr, und wir hatten ein sehr gutes Gespräch auf der Wanderung.« Zu diesem Zeitpunkt konnte man noch hoffen, dass Oded Lifshitz am Leben sei. »Doch kurz nach der Wanderung kam die schreckliche Nachricht, dass er tot ist. Es war furchtbar.«

Der Schwil steht für den Botschafter für die Vielfalt dieses kleinen Landes, »in dem man von beinahe alpinen schneebedeckten Gipfeln über den Kinneret, entlang der wundervollen Mittelmeerküste, durch die Jerusalemer Berge, dann in die Wüste bis zum Roten Meer wandern kann«. Die Vielfalt der Landschaften ist mit den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verbunden. »Durch die Begleitung der Wanderfreunde bekomme ich neue Einblicke, und mit jedem fühlt sich Israel ein wenig anders an.«

An eine Frage denke er bei seinen Wanderungen sehr oft: »Warum ist es nicht möglich, dass alle Seiten sagen: ›Du bist hier genauso zu Hause wie ich.‹?« Seibert ist überzeugt: »Die Anerkennung dieser simplen Wahrheit wäre ein erster Schritt zum Verständnis.« Dabei ist er sicher, dass viele Menschen auf beiden Seiten dies begriffen hätten. »Und doch ist da oft diese Sprachlosigkeit über die für beide Seiten schmerzhafte Geschichte, die einer wirklichen Zusammenarbeit für die Zukunft im Wege steht.«

Die Landschaft sei biblisch, als Christ spreche ihn das an

Auch wenn er bald alle Regionen zu Fuß ganz genau kennengelernt hat, eine Gegend hat es ihm besonders angetan: »Die Wüste ist majestätisch und wundervoll, aber in Galiläa geht mir regelrecht das Herz auf.« Die Landschaft sei biblisch, als Christ spreche ihn das an. »Ich kann mir dort regelrecht Jesus und seine Jünger vorstellen. Ich mag diese karg bewachsenen steinigen Hügel. Und der Ausblick auf den See Genezareth, das Jordantal und den Golan – das ist einfach zauberhaft.«

Und dann, wie aus dem Nichts, steht eine Batterie des Iron Dome mitten in der Natur.

Aber dann, wie aus dem Nichts, steht eine Batterie des Raketenabwehrsystems Iron Dome mitten in der Natur. »Und man weiß sofort wieder, wo man ist.« An anderer Stelle überraschte ihn der »Zeva Adom«, das Warnsignal, das einen Raketenbeschuss ankündigt. »Wir waren in den südlichen Gemeinden unterwegs, standen auf einem Hügel und schauten in Richtung Gaza, als es in unseren Handys losschrillte.« Also warfen sich der Botschafter und seine Begleiter auf den Boden und warteten, bis es vorbei war. »Es ist ein surreales Gefühl. Aber auch das ist eben Israel.«

Natürlich sei es die Aufgabe eines Botschafters im klassischen Sinne, politische Gespräche zu führen oder Berichte zu schreiben, sagt er. Dies sei notwendig. »Aber ich bin überzeugt, es ist ebenso meine Aufgabe, möglichst in jeder Ecke des Landes und mit jeder Bevölkerungsgruppe Kontakt aufzunehmen, zu lernen, zuzuhören und mich auszutauschen.«
Durch die Gespräche habe sich sein Bild von Israel vervollständigt.

»Natürlich ist es etwas anderes, zu wissen, dass es eine bestimmte Anzahl von nicht anerkannten Beduinendörfern gibt, oder mit jemandem stundenlang darüber zu sprechen, wie sein Leben dort wirklich aussieht.« Seine Wanderpartner wissen jetzt auch mehr über Deutschland. »Ich werde befragt und muss erklären, wo Deutschland steht und welche Positionen wir vertreten. Es ist immer ein Austausch.«

Wasser und Kaffee sind Wegbegleiter

Seibert bereite sich nicht besonders auf die Wanderungen vor und nehme nur wenig Proviant mit, denn Hunger verspüre er dabei selten. Also packe er hauptsächlich Trockenfrüchte oder Nüsse ein und natürlich viel Wasser, besonders wichtig im Sommer. Und dann sind da seine Wanderpartner, die – egal ob jüdisch oder arabisch – immer einen kleinen Gaskocher zum Kaffeemachen im Rucksack hätten.

»Ohne den verlässt ein Israeli sein Haus offenbar niemals«, weiß er heute und findet es wunderbar. Araber bringen meist den traditionellen »Cafe im hel« mit, türkischen Kaffee mit Kardamon gewürzt, Juden löslichen, den sogenannten »Nes«. Egal welcher es ist, dem Botschafter schmecken beim Wandern alle. Denn sie stehen symbolisch für die Menschen, die er trifft, die ernsthaften Gespräche, die er führt, die Nähe, die er erlebt. »Ich bin für jeden Kaffee auf der Strecke dankbar, vor allem aber für jeden, der mich begleitet und mir sein Land zeigt.«

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