Ratsversammlung

»Wir lassen uns nicht vertreiben«

Die Ratsversammlung des Zentralrats der Juden in Deutschland am vergangenen Wochenende war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Unter anderem deshalb, weil die jährliche Tagung des obersten Entscheidungsgremiums der Juden in Deutschland noch nie nach nur etwas mehr als drei Stunden am Sonntagmittag bereits beendet war.

Zuvor hatte sich am Samstagabend Zentralratspräsident Josef Schuster wie schon in den vergangenen Jahren auf seine Vorgänger berufen, die Gäste beim Festessen nur kurz begrüßt und dem Hausherrn Salomon Korn für seine Gastfreundschaft gedankt. »Wir freuen uns, wieder einmal hier sein zu dürfen«, sagte Schuster, der als Gastredner den Präsidenten der World Union for Progressive Judaism, David Saperstein, auf die Bühne bat.

Der Rabbiner, Rechtsanwalt und Lobbyist bei der amerikanischen Regierung beschwor in seiner ebenfalls sehr kurz gehaltenen Rede vor allem den Zusammenhalt aller Juden, egal ob orthodox, konservativ oder liberal, ob religiös oder säkular, und das weltweit. Anschläge wie in Pittsburgh, Oakland oder Halle zeigten, dass die Religionen und Menschen zusammenstehen müssten angesichts von Wahn und Terror.

AUSTAUSCH Josef Schuster wünschte den Gästen vor allem gute Unterhaltung im wahrsten Sinne des Wortes. »Wenn am Abend bei einem guten Essen schon Meinungen ausgetauscht werden, gibt es vielleicht am nächsten Tag keine unterschwelligen Nebengeräusche mehr«, hoffte er.

Das beherzigten die Delegierten offenbar. Unterhalten wurden sie aber auch vom Duo SegoTal, dem gemischten Doppel Tal Botvinik aus Jerusalem und Ségolène de Beaufond aus Versailles, die mit ihrer Kombination von Violine und Gitarre eine leise, leichte musikalische Untermalung zwischen Lyrik und Virtuosität zum Festessen fanden. Auf der Leinwand waren dazu Clips von der Jewrovision im Februar in Frankfurt und vom Mitzvah Day, der Mitte November stattgefunden hatte, zu sehen.

Die Ratsversammlung, die zum Ende eines Geschäftsjahres stattfindet, bedeutet für den Zentralrat, Rechenschaft abzulegen, Rechnungsprüfung und vor allem Planung für das kommende Jahr. Auch in diesem Jahr wurde sie wieder geleitet von dem bewährten Tagespräsidium, bestehend aus Daniel Neumann, Judith Neuwald-Tasbach und Alexander Schraga.

SICHERHEIT Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur stand das Thema Sicherheit jüdischer Gemeinden an erster Stelle. In dem Zusammenhang wiederholte Josef Schuster seine Kritik sowohl am Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht, als auch an Ministerpräsident Reiner Haseloff. An Letzterem für dessen Aussage, er habe sich so etwas nicht vorstellen können – erst recht nicht in Sachsen-Anhalt.

Innenminister Stahlknecht warf Schuster vor, der Jüdischen Gemeinde Halle den erbetenen Schutz nicht gewährt zu haben. »Wenn ich dreimal frage und mir immer mit ›Nein, ist nicht notwendig‹ geantwortet wird, dann frage ich nicht ein viertes Mal«, sagte Schuster. Es stelle sich die Frage, ob der Täter versucht hätte, auf die Eingangstür zu schießen, wenn er gewusst hätte, dass die Gemeinde bestreift wird. Ganz sicher, so Schuster, hätte aber der Mord im Dönerimbiss verhindert werden können. Schuster äußerte die Bitte, sich, falls es mit Sicherheitsmaßnahmen in der Gemeinde hapere, entweder an den jeweiligen Landesverband oder direkt an den Zentralrat zu wenden.

»Es war nicht außerhalb unserer Vorstellbarkeit«, erklärte Schuster. Er machte Aussagen von AfD-Mitgliedern dafür verantwortlich, dass rote Linien verschoben wurden und Gedanken, die früher nicht ausgesprochen wurden, heute ausgesprochen werden und zu Taten führen.

»Was dort gesagt wird, ist unverantwortlich«, sagte Schuster und fuhr kämpferisch fort: »Wir sind nicht bereit, uns das kaputt machen zu lassen, was die Generationen vor uns aufgebaut haben. Wir werden uns mit Waffen und Terror nicht vertreiben lassen. Wem es nicht passt, dass jüdisches Leben in Deutschland blüht und aktiv ist, dass Synagogen entstehen und es ein lebendiges Judentum gibt, der kann gern Deutschland verlassen.« Für seine klaren Worte erhielt er spontanen Applaus.

»Wir lassen uns nicht das kaputt machen, was die Generationen vor uns aufgebaut haben.« Josef Schuster

Ein weiterer Kritikpunkt waren die laschen Urteile der Gerichte als Reaktion auf die Angriffe unter anderem auf die Rabbiner Shlomo Bistritzky, Yechiel Bruckner und Yehuda Teichtal. »Was wir in den Gerichten erleben, lässt mich an meinem Vertrauen in die Justiz zweifeln«, sagte Schuster. Da sei von furchtbaren Flucht- und Kindheitserfahrungen als Ausrede für ausgelebten antisemitischen Hass die Rede. Verhängt würden »närrische« Strafen.

Das setze sich in sozialen Netzwerken fort. Dort heiße es: »Freedom of Speech«. »Irgendwann ist es mit der Freiheit zu Ende«, sagte Schuster, dann nämlich, wenn es nur noch um Diffamierung und Hass gehe.

Rechtsextremismus müsse schärfer unter die Lupe genommen werden. Wenn auch der muslimische Antisemitismus nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfe, so solle man sich davor hüten zu generalisieren. Dennoch müsse, wer als Flüchtling ins Land gekommen sei, die Grundrechte anerkennen. Dies gelte für alle. »Und dort, wo sich jemand nicht daran hält, muss die Justiz durchgreifen.«

CHANUKKA Doch der Zentralratspräsident hatte auch viel Positives zu vermelden, was er chronologisch auflistete. Also begann er mit Chanukka. Er sei kein Freund des öffentlichen Lichterzündens gewesen, sei aber davon überzeugt worden, dass es ein gutes Signal nach außen ist: »Judentum ist mehr als Holocaust« und »Wir Juden sind mitten in der Gesellschaft«.

Bei den deutsch-französischen Antisemitismuskonsultationen habe er bemerkt, dass sich die beiden Länder in ihrer Bedrohungslage doch sehr unterschieden. Schuster begrüßte zudem die Entscheidung, dass die AfD als Prüffall und in manchen Teilen als Verdachtsfall eingestuft wurde.

Die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg war ein weiteres Thema. Sie ziehe eine positive Bilanz, allerdings werbe man eindringlich um jüdische Studierende. Die Hochschule feierte in diesem Jahr ihr 40-jähriges Bestehen.

Neben der Jewrovision ist das Begegnungsprogramm Likrat eine weitere Erfolgsgeschichte.

Im Februar fand die äußerst erfolgreiche Jewrovision in Frankfurt statt, und Schuster lud die Jugendlichen schon jetzt vom 6. bis 8. März nach Berlin, die Stadt der Gewinner 2019, ein. Eine zweite Erfolgsgeschichte schreibt das Begegnungsprogramm »Likrat«: 14- bis 18-jährige jüdische Schüler gehen in Schulen und sprechen über ihr Judentum und ihren Alltag.

In Regensburg wurde der Erweiterungsbau zur Synagoge eingeweiht, in Magdeburg ein Grundstück an die Gemeinde übertragen, in Dessau der Grundstein zu einem Synagogenneubau gelegt, in Konstanz schließlich eine neue Synagoge eröffnet. Dies seien deutliche Zeichen jüdischen Lebens in Deutschland, sagte Schuster.

IRRITATIONEN Politische Irritationen seien ebenfalls aus der Welt geschafft worden, wie das angebliche Glückwunschschreiben des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an die iranische Regierung zu 40 Jahren Revolution. Schuster kritisierte unter anderem die Verleihung des Göttinger Friedenspreises an die »Jüdische Stimme« wegen ihrer Verbindungen zu der antiisraelischen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). In dem Zusammenhang lobte er den Entschluss des Bundestages, der sich gegen BDS ausgesprochen hatte.

Das Jüdische Museum mit seiner verfehlten Ausstellung Jerusalem sprach Schuster ebenfalls an. Inzwischen habe man jemanden gefunden, der das Museum leiten soll.

Ein Erfolg des Zentralrats und namentlich des Geschäftsführers Daniel Botmann sei die Bewilligung von Militärrabbinern gewesen. Ebenso das jüdisch-muslimische Begegnungsprojekt »Schalom Aleikum«, das auf Initiative des Zentralrats und der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Annette Widmann-Mauz, im Mai starten konnte.

Schuster erinnerte daran, dass der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, mit dem Leo-Baeck-Preis geehrt wurde.

mitarbeiter Den Linken-Politiker Bodo Ramelow lobte Schuster für sein Engagement für Israel und die Unterstützung bei den Achava-Festspielen in Thüringen. Der Zentralratspräsident ging aber auch näher auf die alltägliche Arbeit im Zentralrat ein und fand für seine Mitarbeiter viel Lob und Anerkennung, ebenso für Direktorium und Präsidium sowie für seine Stellvertreter Abraham Lehrer und Mark Dainow. Ohne sie würde er die Aufgaben nicht bewältigen können.

Viele große und kleine Dinge, von Mischpacha, dem Programm für junge jüdische Familien, bis Mitzvah Day, dem Tag der guten Taten, oder die nach wie vor angebotene Mikroförderung bis zu 500 Euro für kleine jüdische Events, seien hervorragende Beispiele für aktives jüdisches Leben, erwähnte Schuster.

Die Einigkeit in der Kritik an mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und im Positiven für die Gemeindearbeit, Kulturprogramme und viele andere Dinge war auch im Abstimmungsverhalten der Delegierten spürbar. Einstimmig hatten sie Präsidium und Direktorium für das Haushaltsjahr 2018 entlastet. Einstimmig nahmen sie mit zwei, drei Zwischenfragen zu Einzelposten den Haushaltsentwurf, in dem der Bau der neuen Jüdischen Akademie einen großen Posten einnimmt, für 2020 an.

WAHLEN Ebenso eindeutig fielen die Wahlen zum neu zu besetzenden Prüfungsausschuss und zum Obersten Schieds- und Verwaltungsgericht aus. Ihm werden die Rechtsanwälte Marc Grünberg, Daniel Neumann, Benjamin Graumann, Joram Moyal und alternierend die Rabbiner Julian-Chaim Soussan für die Orthodoxe Rabbinerkonferenz (ORD) und Alexander Nachama für die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) angehören. Als Stellvertreterin wurde auf Anregung des Landesverbandes Nordrhein Rechtsanwältin Julia Blüm gewählt. Dieser Vorschlag muss jedoch noch nachträglich vom Direktorium bewilligt werden.

Am Horizont verschmelzen Himmel und Erde, hatte Rabbiner Avichai Apel in seinem Grußwort der ORD gesagt. Es gelte, Gegensätze miteinander zu verbinden, auf allen Ebenen: in der Politik, in der Familie oder in der Diskussion. Die wohl außergewöhnlichste Ratsversammlung – wie sie Tagespräsident Daniel Neumann nannte – ging in diesem Sinne zu Ende.

Neben den vielen Projekten des Zentralrats ging es um aktuelle politische Fragen.

Zuvor hatte der Berliner Rabbiner Andreas Nachama als neuer Vorsitzender der ARK in seinem Grußwort daran erinnert, dass er zuletzt vor rund 20 Jahren zu den Delegierten sprechen konnte, damals noch als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. »Wenn ich die Ratsversammlung damals mit der von heute vergleiche, sieht man, was für einen gewaltigen Fortschritt wir verzeichnen.« Das sei ein großer Erfolg, sagte Nachama. »Und dass wir alle an einem Strick ziehen, das ist in einer Zeit, die so schwierig ist wie die heutige, sehr, sehr notwendig.«

Nachama lobte verschiedene Projekte des Zentralrats, »die nach innen wie nach außen ein Bild von einem lebendigen Judentum geben«. Jüdisches Leben zu praktizieren und von Generation zu Generation weiterzugeben, das sei die eigentliche Aufgabe. »Und ich finde, wir sind auf einem guten Weg.«

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