Porträt der Woche

Wichtige Rolle

»Da ich gern und viel rede, bin ich in die Führungen schnell hineingewachsen«: Mascha Boymenblit (18) Foto: Bernhard Hill

In der Synagoge gab mir neulich jemand den Tipp, ein Nagelstudio zu eröffnen. Denn fast jeder dort weiß, dass ich mich für Nagellacke begeistere. Ich besitze eine Sammlung von 146 Fläschchen mit allen möglichen Farben. Doch nun habe ich beschlossen, diese Kollektion ruhen zu lassen, und bin auf Lippenstifte umgeschwenkt.

Von denen habe ich erst 20 Stück. Doch voraussichtlich werde ich kein Studio aufmachen, sondern lieber studieren. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte ich ziemlich viel um die Ohren, denn ich habe mein Abitur gemacht, mit Deutsch und Kunst als Leistungskursen. Mein mündliches Prüfungsfach war jüdische Religion.

Jugendarbeit Nun werde ich mich an der Kölner Uni um einen Studienplatz bewerben. Entweder möchte ich Deutschlehrerin werden oder Jura studieren. Denn ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker. Ich diskutiere für mein Leben gern – am liebsten darüber, wie man respektvoll miteinander umgeht. Vor allem Jugendkriminalistik interessiert mich. Auf jeden Fall möchte ich später etwas mit Kindern zu tun haben. Da habe ich schon einige Erfahrung.

In unserem Jugendzentrum bin ich seit vielen Jahren aktiv und mittlerweile sogar stellvertretende Leiterin. Auch außerhalb Aachens helfe ich gern mit, etwa bei der Jewrovision. Vielleicht hat es mit meinen zwei jüngeren Geschwistern zu tun, dass ich Kinder so mag. Bei uns zu Hause ist immer etwas los. Allein zu leben, kann ich mir nicht vorstellen. Das muss doch öde sein – man kommt nach Hause, und keiner sagt einem Hallo. Auch aus diesem Grund möchte ich anfangs bei meiner Familie wohnen bleiben und nach Köln pendeln.

Wurzeln Meine Familie stammt aus der Ukraine. Mein Familienname ist jiddisch und bedeutet Baumblüte. Ich habe ihn noch ein einziges Mal in den USA gefunden. Manchmal denke ich, ich müsste mich dort melden und schauen, ob wir verwandt sind.

Als ich zwei Monate alt war, zogen wir von Charkow nach Deutschland. Die ersten drei Jahre lebten wir in einem Auffanglager bei Chemnitz, danach bezogen wir eine eigene Wohnung in Glauchau. Zu Hause sprachen und sprechen wir nur Russisch. Als ich in den Kindergarten kam, habe ich keine einzige Erzieherin verstanden und fühlte mich dort sehr unwohl. Nur ein anderes Mädchen sprach auch Russisch. Sie wurde meine beste Freundin. Bis heute sind wir noch eng miteinander befreundet – kürzlich habe ich sie in Berlin besucht. Vor ein paar Monaten wurde ich Deutsche und gab den ukrainischen Pass ab. Das war ein komisches Gefühl. Bis dahin war ich die Einzige in meinen Gymnasialkursen, die keinen EU-Pass hatte.

Als ich viereinhalb Jahre alt war, zogen wir nach Aachen, die ganze Familie, auch alle Großeltern. Mein Vater ließ sich zum Industriemechaniker umschulen, meine Mutter arbeitet seitdem ehrenamtlich als Russischlehrerin in einem Verein. Mein neuer Kindergarten in Aachen gefiel mir besser. Deutsch lernte ich dort sehr schnell.

Kunst Meinen Eltern war es wichtig, dass ich von Anfang an viel lerne, also meldeten sie mich zu einem Kunstkurs an. Als ich klein war, erzählte mir der Kunstlehrer immer Märchen, die ich nachmalte. Damals hing an jeder Tür in unserer Wohnung eine kleine Galerie meiner Bilder. Ich habe oft überlegt, auch beruflich etwas Künstlerisches zu machen, entschied mich aber dagegen. Malen bleibt mein Hobby.

Die Kunst hat mich vor allem zwei Dinge gelehrt: Geduld und eine kritische Auseinandersetzung mit meiner Leistung. Nach den ersten Pinselstrichen bekomme ich immer eine Krise. Dann möchte ich das Bild am liebsten zerreißen und bin kurz davor, aufzugeben. Aber dann gebe ich mir einen Ruck – und es wird doch noch etwas. Derzeit stehen bei mir Rosen hoch im Kurs, wobei die detaillierte Malerei der Blüten lange dauert.

In der Grundschule hatte ich auch evangelischen und katholischen Religionsunterricht. Meine Mutter fand, wenn wir nun in Deutschland leben, sollten wir auch die Kultur kennenlernen. Nach der Grundschule wechselte ich aufs Gymnasium. Uff, das war anfangs sehr schwer.

Auf gute Bildung legen meine Eltern großen Wert. Ein Lehrer empfahl mir, zusätzlich eine Sprachakademie zu besuchen, um die deutsche Grammatik perfekt zu lernen. Das war zwar sehr lästig, hat sich aber schließlich gelohnt. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht die ganze Zeit zu Hause gesessen und gelernt habe. Denn ich wollte auch ein bisschen normales Leben haben. Dazu gehören mein Freund und meine Tä-tigkeiten in der Gemeinde.

Gemeinde Als meine Mutter in der Synagoge Russischunterricht gab, nahm sie mich oft mit. So bin ich dort groß geworden. Zu den Festen zogen meine Eltern mir hübsche Kleider an und machten mich schick. Mit sieben, acht Jahren war ich oft im Jugendzentrum, dann mal eine Weile seltener und ab der sechsten Klasse, also mit zwölf Jahren, wieder richtig.

Mit 14 Jahren war es für mich völlig normal, auf kleinere Kinder ein Auge zu haben und mich um sie zu kümmern. Mit 15 besuchte ich Seminare, um Madricha zu werden. Ich liebe es, mit Kindern zusammen zu sein. Im Jugendzentrum will ich mich auf jeden Fall weiter engagieren. Unser aktuelles Projekt sind Angebote für Studenten. An der Hochschule Aachen gibt es auch jüdische Studenten, die wir einbeziehen wollen.

Eines Tages fragte mich jemand von der Synagogenverwaltung, ob ich nicht Lust hätte, die Führungen durch das Gotteshaus zu übernehmen. Ich sagte spontan zu – ohne vorher genau Bescheid zu wissen, was da auf mich zukommt. Ich bin einfach ins kalte Wasser gesprungen. Bei meiner ersten Führung war ich sehr aufgeregt.

Führungen Da ich vorher selbst keine Führung miterlebt hatte, wusste ich nicht so richtig, wie man es macht. Aber weil ich gern und viel rede, bin ich da schnell hineingewachsen. Meist beginne ich mit dem früheren jüdischen Leben in Aachen.

Dazu nutze ich die vielen anschaulichen Vitrinen, etwa die mit den Torarollen. Außerdem erzähle ich von den Feiertagen, da kenne ich mich aus. Zu uns kommen Schulklassen, Konfirmandengruppen, Auszubildende und neulich sogar eine Kindergartengruppe. Touristen habe ich noch nicht erlebt. Manchmal sind es drei Führungen pro Woche, dann wieder eine Weile keine einzige.

Mir macht es Spaß. Und ich mag die Synagoge. Sie wurde 1995 eingeweiht und steht heute auf dem gleichen Platz wie das alte Bethaus vor der Schoa. Neulich hatten mein Schulleiter und ich die Idee, ob wir jüdisches Leben in Aachen an einem Vortragsabend thematisieren sollen. So kam es, dass ich vor 150 Zuhörern einen eineinhalbstündigen Vortrag hielt.

Religion Mein Freund ist kein Jude, aber offen und unterstützend. An Jom Kippur fasten meine Großeltern und ich immer, einmal auch meine Mutter, aber sonst niemand aus meiner Familie. Zu Hause bin ich diejenige, die die jüdische Religion befolgt. Mein Freund begleitet mich in die Synagoge – und ich auch ihn in seine Gemeinde. Schade fand ich dieses Jahr zu Pessach, dass es so schwer ist, sich richtig zu ernähren. In Aachen kaufen wir Mazze und andere koschere Lebensmittel über die Synagoge. Leider gibt es hier keinen koscheren Supermarkt.

Bevor die Uni beginnt, möchte ich mit meiner Familie auf jeden Fall noch einmal verreisen, jobben oder ein Praktikum machen. Im Sommer erfahre ich dann auch, für welches Fach ich einen Studienplatz bekomme. Falls es nicht klappt, gibt es ja noch die Idee mit dem Nagelstudio – nein, das war jetzt ein Scherz.
Mich zieht es auf jeden Fall an die Uni.

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