Gesang

Wenn Töne verbinden

»Letzte Nacht,/
zwischen Kassiopeia und dem Bär,/
fiel ein Stern herab./
Das Ende des Lebens von jemandem,/
die Geburt von unerfüllten Hoffnungen./
In genau keinem Bruchteil der Zeit./
Ein Leben mit grauer Farbe und rosiger Hoffnung./Der Blick in eine vage Ewigkeit./
Auf eine fahle Nacht blickend,/
Mit einem Lachen,/
Welten gegenüberstehend, die rosa und grau gefärbt sind.«

Gesungene hebräische Worte, vom Klavier begleitet, dringen aus einem der gotischen Säle in der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Die Gesangsstudentin Sofiya Kulay trägt ein israelisches Kunstlied vor – ein seltenes Genre an diesem Ort, dem ehemaligen Rostocker Katharinenkloster, wo einst Franziskanermönche lebten und ganz andere Lieder sangen. »Die Melodie dieses israelischen Lieds stammt von Tzvi Avni, einem der wichtigsten israelischen Komponisten der Gegenwart«, sagt der Jerusalemer Pianist und Musikwissenschaftler Ido Ariel. Es sei die Vertonung des Gedichts »Lejad omko schel nahar« (Am Rande der Tiefe eines Flusses) von Matti Katz. Der Dichter war Soldat und kam im Sommer 1964 im Alter von 19 Jahren bei einem Gefecht an der syrischen Grenze ums Leben.

Der Musikwissenschaftler Ido Ariel sprach im Doktorandenkolloquium.

Ariel, der an der Jerusalem Academy of Music and Dance lehrt, ist zu einem dreitägigen Meisterkurs und zu einem Vortrag im Doktorandenkolloquium nach Rostock gekommen. Er ist Experte für das israelische Kunstlied – so auch der Titel seines Meisterkurses. Mit den Rostocker Studierenden taucht er in eine Musik ein, die diese, bevor sie sich auf den Meisterkurs vorbereiteten, noch nie gehört hatten. Gemeinsam lesen sie die Gedichte auf Hebräisch, einer für die Studierenden völlig fremden Sprache. Fast alle sind nur wenige Jahre älter als Matti Katz damals, als er die Verse schrieb.

»Lejad umko schel nahar,/
Tafsu hasichim beʼatsile jaday,/
Umeshachuni el kinam /
Beharim hagvohim./Shaʼalti: Ma hamerchak leʼovdat?«
(Am Rande der Tiefe eines Flusses/
Die Sträucher und das Schilf hielten meine Arme fest/Und zogen mich hinauf zu ihrem Nest/in den Bergen hoch oben./
Ich fragte mich: Wie weit ist es nach Avdat?)

Ariel erzählt, dass Tzvi Avni den Liederzyklus Neben der Tiefe eines Flusses zwischen 1969 und 1975 komponiert hat. Die Eltern des jungen Matti Katz hatten die Gedichte ihres Sohnes nach dessen Tod mehreren führenden Komponisten zur Vertonung angeboten, um ihres Sohnes zu gedenken. Warum neben Tzvi Avni auch einige andere Komponisten die Verse von Katz aufgriffen, mag daran liegen, dass sein Gedicht einen wichtigen Teil moderner israelischer Identität verkörpert.

»Ich kroch weiter,/
Meine Kleidung klebte fest und tropfte von Schweiß und Blut./
Es gab Schüsse und einen Knall und einen Aufprall./
Ich bin des Krieges überdrüssig und des Starrens/Von Tausenden von Augen und des grellen Sonnenlichts./
Ich habe alles verlassen,/
Verlassen für immer./
Ich kroch weiter, an den Rand des ständigen Gebrülls/
Und blutend aus meiner Wunde,/
kroch ich weiter auf toten Boden.«

Die Dekanin der Hochschule, Karola Theill, Professorin für Liedgestaltung, referierte vor einiger Zeit in Israel über deutsche Lieder. Nun hat sie ihren Jerusalemer Kollegen nach Rostock eingeladen. Die beiden Hochschullehrer, die seit Jahren miteinander befreundet sind, haben ein gemeinsames großes Thema: das Kunstlied. Daraus ist eine Kooperation zwischen den Hochschulen erwachsen.

KOMPONISTEN Die Wurzeln des israelischen Kunstlieds liegen unter anderem in Deutschland, wo seit dem 19. Jahrhundert Komponisten wie Franz Schubert, Robert Schumann oder Felix Mendelssohn Bartholdy Hunderte Stücke schufen. »Als dann in den 30er-Jahren das israelische Kunstlied entstand, war dies Komponisten und Komponistinnen zu verdanken, die aus Mittel- und Osteuropa nach Palästina einwanderten«, sagt Ariel.

»Sie brachten die Tradition des deutschen Liedes, der osteuropäischen Lied­tradition und des jüdischen Musikstils mit. Aber als sie nach Palästina kamen, lernten sie eine neue Landschaft kennen, waren mit einem anderen Klima konfrontiert, erlebten ganz andere Menschen und hörten neue Stimmen.« In vielen israelischen Kunstliedern verschmelzen diese verschiedenen Elemente, erklärt der Musikwissenschaftler. »So wurde in den Liedern zum Beispiel der grüne deutsche Wald durch die viel trockenere israelische Landschaft ersetzt und mit lokalen, ›östlichen‹ Klängen und Rhythmen verbunden.«

An die Stelle des grünen deutschen Waldes trat die trockene israelische Landschaft.

Die Komponisten kombinierten europäische Techniken und Ästhetik mit lokalen Rhythmen, Melodien, Texturen und verwandelten die romantische Stimmung in den sogenannten mediterranen Stil.
Die nächste Generation habe dann versucht, an den zeitgenössischen europäischen, »modernen« Stil anzuknüpfen, sagt Ariel, der diese Entwicklungen seit Jahren untersucht. In Rostock stellte er einen kleinen Teil seiner Forschungsergebnisse vor.

»Zu den Steinen, die der Mensch mit Füßen getreten hat?/
Draußen in der Dunkelheit/
hörte ich das Rascheln ihrer Flügel/
Und ihrer Äste, die schwer gequetscht sind/
im Inneren der Tore./
Ich hatte kein Verlangen, sie zu sehen,/
Meine Blätter und meine Blumen waren zerknittert,/
Ich lief weiter, den Hang hinunter, der abfiel/Zu den Radionachrichten/
Die Tagestemperatur in Rom/
Zur Grenze und zu den Rettungsteams in der Nähe.«


»Die Menschen, die damals einwanderten, hatten das Bedürfnis nach Liedern, die sich an die neuen Realitäten und Belange des Jischuw anpassen würden«, erklärt Ariel. Im Lehrplan der Gesangsabteilung der Jerusalem Academy of Music and Dance spiegele sich dieses Erbe bis heute wider. »Das Kunstlied im Allgemeinen und das deutsche Lied im Besonderen sind wesentlicher Bereich in der Ausbildung junger israelischer Sängerinnen und Sänger«, so Ariel. Deutsche Liedkurse und -seminare seien eine ständige Anforderung in den Abschlussprüfungen, sie zeigten die Verbundenheit mit dem Erbe des deutschen Liedes.

Dass sich in Rostock nun umgekehrt deutsche Studierende mit dem israelischen Lied beschäftigen, berührt den Jerusalemer Musikwissenschaftler. Jede Sängerin und jeder Sänger hat drei Lieder in hebräischer Sprache einstudiert, aus einem Zeitraum, der von den 30er-Jahren bis fast in die Gegenwart reicht. »Wir haben uns die Gestaltung dieser Lieder gemeinsam erarbeitet, und ich bin sehr beeindruckt von den Studierenden.«

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