Würzburg

Stationen der Erinnerung

Mehr als 13.600 jüdische Einwohner zählte Unterfranken um 1900. Damit stellten Juden deutschlandweit hier den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung. Würzburgs jüdische Gemeinde war im Mittelalter und im 19. Jahrhundert ein wichtiges geistiges Zentrum. Doch auch in den Landgemeinden der Region prägten Juden das wirtschaftliche, soziale, kulturelle und religiöse Leben.

Ein Beispiel ist Unsleben. Etwa 250 jüdische Bürger zählte der Ort in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts, »25 Prozent der Gesamtbevölkerung«, wie Michael Gottwald, heute Bürgermeister der Gemeinde, betont. »Unsleben hat sehr von der jüdischen Bevölkerung profitiert. Ohne sie wäre der Ort nicht das, was er ist«, sagt Gottwald. Heute weist eine Tafel an einer Hauswand darauf hin, dass hier einst eine Synagoge stand. Wie in den anderen 109 Kommunen in Unterfranken löschte der Nationalsozialismus auch in Unsleben alles jüdische Leben aus. 1942 wurden 19 Frauen, Männer und Kinder, die zuletzt noch im Ort lebten, nach Würzburg gebracht und von dort aus deportiert.

Gedenkort Um ihrer zu gedenken, sind neben Gottwald mehr als 50 Bürgermeister und Landräte unterfränkischer Kommunen und Kreise zu einem Erinnerungsgang nach Würzburg gekommen. Daran nahm auch der in Würzburg lebende Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, teil. Es gilt, den Weg, den ein Großteil der aus Unterfranken deportierten Juden bis zum Besteigen der Züge ging, nachzuvollziehen und sich mit dem Projekt »Denkort Aumühle« zu beschäftigen.

An dem ehemaligen Güterbahnhof im Würzburger Stadtteil Aumühle, an dem jüdische Frauen, Männer und Kinder bei insgesamt sechs Deportationen von 1941 bis 1943 die Züge in die Vernichtungslager besteigen mussten, soll ein Denkmal entstehen. Dieses Mahnmal bildet den Endpunkt der etwa zwei Kilometer langen Strecke, die am heutigen Wohnkomplex Platz’scher Garten beginnt.

Am Platz’schen Garten stand damals ein Tanzlokal, das die Nazis als Sammelpunkt für einen Großteil der Juden nutzen, die aus den Landgemeinden nach Würzburg zur Deportation geschickt wurden. 1794 der insgesamt 2068 Juden, die von 1941 bis 1943 von Würzburg aus in die Vernichtungslager deportiert wurden, gingen den Weg zum Bahnhof Aumühle. Nur 60 von ihnen überlebten die Schoa.

Bundestagswahl Bezug nehmend auf das Ergebnis der Bundestagswahl fragte Josef Schuster in seiner Begrüßungsrede, ob es sinnvoll und notwendig sei, einen weiteren Denkort zu schaffen. Seine Antwort lautete: »Das Ergebnis der Bundestagswahl bejaht für mich diese Frage.« Dass die AfD in Würzburg mit weniger als acht Prozent ein unterdurchschnittliches Ergebnis erzielt hat, beruhige ihn ganz und gar nicht.

Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt (CDU) verwies darauf, dass in einer Umfrage 2016 etwa 20 Prozent der Befragten äußerten, Vorurteile gegenüber Juden zu haben.

Den Weg, dem am Dienstag mehrere Hundert Teilnehmer folgten, waren bei der Einweihung im Mai 2011 bereits mehr als 3000 Menschen gegangen. Diesmal sind Klassen von Realschulen und Gymnasien aus Würzburg und Unterfranken mit dabei. An den einzelnen Stationen lesen sie Texte vor, die von Einzelschicksalen erzählen. Sie berichten unter anderem von Fritz Mandelbaum, der 1938 das heutige Siebold-Gymnasium in Würzburg, damals Realgymnasium, verlassen musste. Vor seiner Flucht aus Deutschland schenkte er seinem Freund Karl Lorenz, einem Nichtjuden, seine Schulmütze. Kurz vor seinem Tod vermachte Karl Lorenz der Schule dieses Andenken.

inschriften Seit mittlerweile sechs Jahren wird dieser Weg der Erinnerung gestaltet und immer wieder mit neuen Gedenkzeichen bestückt. So steht an seinem Anfang ein Denkmal, das der Benediktinerpater Meinrad Duffner aus Eisen gestaltet hat: Schuhe auf Treppenstufen und Inschriften, die an die sechs Todestransporte und ihre Ziele erinnern. Wer weiter geht, stößt auf in den Boden eingelassene Betonstreifen mit der Aufschrift »Wir wollen erinnern«.

Seit einigen Tagen stehen – ebenfalls von Meinrad Duffner gestaltete – Metallstelen entlang der Strecke. Sie enthalten Tafeln mit Texten und Bildern, die über die Deportationen informieren. QR-Codes geben Zugang zu weiteren Informationen. Die Stelen tragen einen Aufsatz mit einem Muster, das an auf Gräber gelegte Steine erinnert. »Für mich handelt es sich um verlorene Steine«, sagt der Pater und Künstler. »Verlorenes mit Erinnerung zu füllen, ist für mich unsere Aufgabe.«

Der Güterbahnhof in der Aumühle am Ende der Strecke, an dem einst die Züge warteten, besteht nicht mehr. Allerdings ist ein Teil des gepflasterten Weges, der zum Bahndamm führte, erhalten. Auf diesem Pflasterstück ist jetzt ein Denkmal geplant, das möglichst viele der unterfränkischen Orte, in denen es jüdische Gemeinden gab, einbinden soll.

Kofferband Der Entwurf des Architekten und Künstlers Matthias Braun sieht ein Band aus Metall vor, das wie ein Kofferband ein Stück des Weges zum Bahnsteig entlangläuft. Auf dem Band stehen Koffer, versehen mit Anhängern, auf denen die Namen der Dörfer und Städte stehen, aus denen die Deportierten kamen. Jeder dieser Koffer hat einen Doppelgänger, der in der jeweiligen Gemeinde steht. »Wie die Koffer gestaltet werden und durch wen, ist den Gemeinden freigestellt«, sagt Benita Stolz, Stadträtin in Würzburg und Koordinatorin des Projekts »Wir wollen uns erinnern«. So sei es möglich, dass Schulklassen und Ehrenamtliche die Koffer gestalten.

Bürgermeister Michael Gottwald aus Unsleben weiß bereits von genügend Befürwortern des Projekts in seiner Gemeinde. »Wir haben uns auch schon im Kulturausschuss mit dem Thema beschäftigt«, sagt Winfried Knötgen, stellvertretender Bürgermeister von Veitshöchheim, einem Vorort von Würzburg.

Die Stadt bezuschusst das Projekt und will für dessen Pflege aufkommen. Idee ist, dass alle 200 Kommunen in Unterfranken das Denkmal am Bahnhof Aumühle mitfinanzieren. »Wenn jede der 200 Gemeinden nur 500 Euro gibt, kommen schon 100.000 Euro zusammen«, sagt Benita Stolz. Dessen ungeachtet, wird die Fertigstellung des Projektes mehrere Jahre dauern. Demnächst verteilt die Projektgruppe Flyer über den Erinnerungsweg an Schulen.

aumühle An der Rampe in der Aumühle angekommen, finden die Teilnehmer des Marsches 592 Tafeln mit den Namen der Menschen vor, die am 23. April mit dem letzten Deportationszug in die Vernichtungslager gebracht wurden. Bevor Jakov Ebert, Rabbiner der Würzburger Gemeinde, mit einem Gebet schließt, spricht Helmut Försch, ehemaliger Stadtrat und Gründer der Würzburger Geschichtswerkstatt.

Försch, Jahrgang 1928, erzählt, wie er und seine Geschwister in der Nachbarschaft der Familie Kastanienbaum in Würzburg aufwuchsen. »Alle Eisenwaren haben wir in ihrem Laden gekauft«, blickt er zurück. Er erinnert daran, dass der Weg zur Erinnerungskultur in Deutschland ein langer war. Zu sehen, wie einfach es Demagogen auch heute haben, findet er schrecklich.

Thomas Habermann, Landrat des Kreises Rhön-Grabfeld, sieht das Projekt des Weges und des Denkmals der Erinnerung als Möglichkeit, die Geschichte des Judentums in Unterfranken mit der Gegenwart zu verknüpfen. Auf das aktuelle politische Klima Bezug nehmend, betont er, dass die Würde von Menschen nicht nur durch Taten, sondern auch durch Worte verletzt werde.

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