Berlin

»Sie war meine erste Liebe«

War die erste Iwrit- und Religionslehrerin der Gemeinde nach der Schoa: Ora Guttmann (87) Foto: Uwe Steinert

Neben zahlreichen Bänden über jüdische Mystik steht in Ora Guttmanns Bücherregal auch Goethes Faust. »Pflichtgemäß habe ich das Buch gelesen«, sagt die 87-Jährige mit einem Lachen. In den Schränken in ihrer Wohnung sieht man sonst nur hebräische Bücher und deutsche Titel wie Entstehung des Gebets, Bibel mit traditionellem Kommentar oder Spinoza und andere Ketzer. »Belletristik interessiert mich nicht, ab und zu lese ich aber israelische Literatur«, sagt sie. Kein Wunder, denn Ora Guttmann war 33 Jahre lang Religionslehrerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin – die erste nach der Schoa.

»Sie war meine erste Liebe, ich war unsterblich in sie verliebt«, sagt Benno Bleiberg, ehemaliges Mitglied der Repräsentantenversammlung, früherer Kultusdezernent und einer von Ora Guttmanns damaligen Schülern. Der Unterricht liegt schon ein paar Jahrzehnte zurück – als Sechsjähriger drückte er bei Ora Guttmann nachmittags die Schulbank. »Sie war eine sehr gute Pädagogin und schaffte es sogar, mich dazu zu bringen, Hebräisch zu lernen«, sagt Benno Bleiberg rückblickend.

Noch heute unterrichtet Ora Guttmann zwei erwachsene Schüler, die dann am großen Esszimmertisch mit ihr lernen.

Noch heute unterrichtet Ora Guttmann zwei erwachsene Schüler, die jeweils einmal in der Woche zu ihr kommen und am großen Tisch im Esszimmer mit ihr lernen. Es duftet nach Hyazinthen, die am Fenster stehen, denn Ora Guttmann mag Blumen. An der Wand hängt ein gerahmtes Schriftstück – ein Loblied auf die Frau, auf Hebräisch. »Das hat mein Schüler für mich geschrieben und damit gezeigt, wie gut er nun die Sprache beherrscht.«

Ein anderes Foto an der Wand zeigt ihren verstorbenen Mann Gad. 1957 zog das Paar von Israel nach Deutschland. Gad hatte Sehnsucht nach seiner Geburtsstadt Berlin. »Auch ich war neugierig auf Europa«, sagt sie. Gad wollte erst einmal selbst einen Eindruck gewinnen, so lange sollte Ora bei Bekannten in Holland warten. Rasch stand fest, dass das Paar in Berlin leben konnte und wollte. In Israel seien sie dafür schief angeschaut worden. »Wenige Jahre nach der Gründung des Staates Israel stieß dieser Schritt bei vielen auf Unverständnis«, erinnert sich Ora Guttmann. Anfangs kamen sie bei einer Tante in Wilmersdorf unter. Als sie starb, konnten die Guttmanns die Wohnung übernehmen.

WURZELN Gads Mutter war jung gestorben, sein Vater wurde deportiert; ihn hat er nie wiedergesehen. Während des Zweiten Weltkriegs schaffte es Gad, nach Palästina zu gelangen. Dort lebte auch Ora Guttmanns Vater. Da er im polnischen Teil Galiziens aufgewachsen war, sprach er Deutsch. Über Frankreich, wo er seine erste Frau, Oras Mutter, kennenlernte, kam er ins damalige britische Mandatsgebiet.

1931 wurde Ora in Haifa geboren. Doch die Eltern ließen sich scheiden und brachten sie und ihren Bruder in einem Kibbuz unter. »Das war damals so üblich«, erklärt Ora. »Alle Kinder waren zusammen und verbrachten wenig Zeit bei ihren Eltern.« Ihre Mutter bekam noch zwei weitere Kinder. Ab und zu besuchte Ora ihren Vater und dessen zweite Frau, die ebenfalls Deutsch sprach. Auf diese Weise lernte sie etwas von der Sprache. Nach der Schule besuchte sie das Lehrerseminar.

Die Eltern brachten Ora und ihren Bruder als Kinder in einen Kibbuz – das war damals so üblich, sagt sie.

Als sie später in Berlin den damaligen Gemeindechef Heinz Galinski traf und dieser sie fragte, ob sie Deutsch spreche, habe sie dies selbstbewusst bejaht, während sie »Nein« gedacht habe, erinnert sie sich. Humorvoll und warmherzig erzählt sie auch von Momenten, in denen sie hörte, wie ihre Schüler über ihre Deutschkenntnisse witzelten.

Bereits Ende der 50er-Jahre wurde ihr Mann Sportlehrer an einer staatlichen Schule in Tempelhof, und Ora Guttmann begann, die wenigen jüdischen Kinder in einer Schule in der Sybelstraße zu unterrichten. »Da kamen wir aber nur nachmittags rein.« Als das Gemeindehaus in der Fasanenstraße stand, zog sie mit Büchern und Schülern dorthin um.

»Ich war jeden Nachmittag dort und habe Wurzeln geschlagen, die Kinder kamen jeweils nur einmal die Woche«, beschreibt sie die Anfänge. Die Schulen, die ein paar jüdische Schüler hatten, besuchte die Religionslehrerin am Vormittag, darunter die John-F.-Kennedy-Schule in Zehlendorf und das Friedrich-Ebert-Gymnasium in Steglitz.

SYNAGOGE In der Synagoge Pestalozzistraße gab sie darüber hinaus Kurse für diejenigen, die zum Judentum übertreten wollten. »Rabbiner Manfred Lubliner, der zwischen 1972 und 1980 amtierte, sollte einen Teil machen, bat mich dann aber, den Unterricht zu übernehmen.« Ihr ist es zu verdanken, dass die Mädchen in der Synagoge Pestalozzistraße Batmizwa feiern durften. »Bei einer Repräsentantenversammlung schlug ich vor, dass auch Mädchen diese Möglichkeit bekommen sollten«, sagt die 87-Jährige. Heinz Galinski war sofort dafür.

Ein bisschen hatte auch ihre Halbschwester, die in den USA lebt, Anteil daran, dass sie diesen Vorstoß unternahm. Denn sie hatte immer wieder zu Ora gesagt, dass sie nicht weniger wert seien, nur weil sie Frauen sind. Für viele Gemeindemitglieder sei diese Idee damals jedoch sehr fremd gewesen, erinnert sich Ora Guttmann. »Mädchen sollen zur Tora gerufen werden? Aus der heiligen Rolle lesen? Das geht doch nicht – so dachten damals viele«, sagt sie.

Auf ihre Initiative hin durften Mädchen Batmizwa feiern.

Sie kniet sich auf den Teppich und zieht ein Album aus dem unteren Regal. Auf etlichen Fotos lachen sie und ein paar Mädchen in die Kamera. In den 70er-Jahren durften die Mädchen im Gotteshaus nur in Gruppen und freitags Batmizwa feiern. Die Jungen wurden am Samstag zur Tora aufgerufen. Zwei Jahrzehnte später sind auf den Fotos nur noch jeweils zwei Frauen abgebildet: Ora Guttmann und ihre Schülerin. Zu diesem Zeitpunkt durften Mädchen bereits individuell Batmizwa feiern. »Heute ist das ganz normal«, freut sich Ora Guttmann. Sie ist stolz darauf.

LEKTÜRE Sie selbst hatte nie eine Batmizwa. Als sie vor zwei Jahren die Zeremonie nachholen wollte und der Termin feststand, wurde sie krank und musste die Feier absagen. Später habe es sie nicht mehr so interessiert, sagt sie. »Ich bin jetzt eine ältere Frau und sehr mit mir selbst beschäftigt.« Den Tag verbringt Ora Guttmann mit Lesen. Ein Muss sind Nachrichten: Erst hört sie deutsches Radio, dann stellt sie auf einen israelischen Sender um.

Und auch Bewegung gehört zu ihrem Alltag. »Ich absolviere ein Minimalprogramm«, sagt sie lächelnd, einmal die Treppen hinunter – sie wohnt im dritten Stock – und etwas einkaufen. Aber nur im Laden um die Ecke. Worüber sie sich auch immer wieder freut, sind ihre netten Nachbarn, mit denen sie sich gerne unterhält.

»Ich bin eine bewusste Jüdin, aber nicht religiös«, sagt sie heute von sich. Das Judentum interessiert sie mit seinen Ideen, seiner Geschichte und Philosophie. Die Themen lassen Ora Guttmann auch im Alter nicht los. Deshalb wird sie nicht müde, immer wieder ihre Bücher aufzuschlagen. Denn bei jeder Lektüre gibt es etwas Neues zu entdecken.

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