Gelsenkirchen

Mahnmal aus Sandstein

Junge Frauen, erst 14 bis 16 Jahre alte Mädchen, ihrer Heimat in Ungarn entrissen und nach Auschwitz deportiert. Sie entkamen dem Tod im Konzentrationslager nur, indem sie für die Gelsenberg Benzin AG in Gelsenkirchen schwerste körperliche Arbeit verrichteten.

Insgesamt 2000 jüdische Frauen erreichten am 4. Juli 1944 den Güterbahnhof in Gelsenkirchen. In Zeltlager gepfercht, leb­ten die Zwangsarbeiterinnen unter unwürdigsten Verhältnissen. Sie schufteten zwölf Stunden am Tag, schafften Kriegstrümmer fort, bauten Stahlkonstruktionen ab, schleppten mit bloßen Händen kantige Steinbrocken oder reinigten den Bachlauf von Öl, wie es Karl-Heinz Rotthoff in seiner Rechercheschrift Du hast mich heimgesucht bei Nacht beschreibt.

Ein Bombenangriff am 11. September 1944 tötete 138 jüdische Zwangsarbeiterinnen sofort. Weitere 17 starben später in Krankenhäusern. Wucht und Grausamkeit dieser Geschehnisse wirken bis heute nach und bleiben Teil des gesellschaftlichen Gedächtnisses.

Trümmer »Wir wollten der Figur etwas Schmerzvolles geben, die gebeugte Haltung, niedergeschlagen mit dem Trümmerstein in den Händen – sie soll sinnbildlich für die Zwangsarbeiterinnen stehen«, sagte Marius Feige. Der 23-Jährige gehört zu einer Gruppe Steinmetzschüler des Hans-Schwier-Berufskollegs, die gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und mit der Hilfe von Sponsoren ein ganz besonderes Projekt umgesetzt haben.

»Es war schon lange mein Herzenswunsch, etwas Neues zu machen, um einen Ort zu schaffen, von dem wir noch mehr lernen können«, sagte Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Mitte September bei der Einweihung der Skulptur an der Grabstätte der ungarischen Jüdinnen auf dem Friedhof in Gelsenkirchen-Horst-Süd. Seit 1948 erinnert bereits ein Gedenkstein an die Frauen.

Die neue Figur aus Baumberger Sandstein ergänzt das Ensemble. Sie kniet auf einem Sockel, der auf einem im Boden eingelassenen Davidstern aus dunklem Hartgestein steht. Direkt am Wegesrand platziert, regt sie zum Nachdenken an. »Da kniet jemand, der verlassen ist von der ganzen Welt, ohne Zukunftsperspektive – er hat aufgegeben. Das haben die jungen Leute sehr schön herausgearbeitet«, sagt Neuwald-Tasbach, deren Mutter zu den überlebenden Zwangsarbeiterinnen dieses Bombenangriffs gehörte.

Entstehung Die Idee, den ungarischen Jüdinnen ein neues Denkmal zu setzen, entstand 2017 im Rahmen eines Vortrags des Holocaust-Überlebenden Leslie Schwartz im Hans-Schwier-Berufskolleg. Gemeinsam mit Schulleiter Egbert Stein stieß die Gemeindevorsitzende Neuwald-Tas­bach das Projekt an. Im Rahmen eines Wettbewerbs unter angehenden Steinmetzen entstanden vier Entwürfe für ein solches Denkmal.

Nach Auswahl durch eine Jury, der Vertreter der Jüdischen Gemeinde, der NRW-Landesinnung der Steinmetze, des Baumberger Sandsteinmuseums und des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen angehörten, wurde im März dieses Jahres der Vorschlag von Marius Feige, Dominik Deuchert, Maximilian Böse und Jan Trampel prämiert. »Die Entwürfe waren alle toll, aber dieser hat etwas mehr mit mir gemacht«, sagt Neuwald-Tasbach.

nicht-vergessen Sogar die Inschrift im Sandsteinsockel wählten die angehenden Steinmetze selbst aus. »Bei unserer Suche nach einer Inschrift stand das Nicht-Vergessen im Vordergrund. Aber wir wollten auch das Thema Tod nicht aussparen«, erklärt Maximilian Böse (21) die Entscheidung. Ein Zitat der englischen Schriftstellerin George Eliot steht jetzt als Textband auf Deutsch und Hebräisch um den Sockel der Skulptur: »Unsere Toten sind niemals wirklich tot für uns, solange wir sie nicht vergessen.«

Für die Auszubildenden war die Arbeit an einer Frauenfigur, die wenig gemeinsam hat mit ihren eigenen Leben als Steinmetze, eine aufschlussreiche Zeit. Die Handwerker besuchten die Synagoge in Gelsenkirchen und beschäftigten sich mit der Geschichte der Zwangsarbeiterinnen. Zu acht arbeiteten sie eine Woche im Baumberger Sandsteinmuseum in Havixbeck an der Skulptur und wohnten währenddessen zusammen auf einem Bauernhof. »Es ging darum, die Gestaltungsgedanken in Plastizität umzusetzen«, erklärt der Leiter des Bildungsgangs, Christian Daub.

Erfahrung Für die Steinmetzschüler war dies die ungewöhnliche Gelegenheit, ein öffentliches Denkmal zu schaffen. »Im Steinmetzhandwerk sind solche Arbeiten selten, deswegen war es etwas Besonderes und eine ganz neue Erfahrung«, sagt Marius Feige.

Er und seine Kollegen sahen ihr Werk zum ersten Mal an seinem Bestimmungsort, als das dunkle Tuch gelüftet wurde: eine gebeugte Figur mit grober Oberflächenstruktur, die an die sackartigen Überwürfe der Zwangsarbeiterinnen erinnert. Die Gesichtszüge der Frau zeigen eine Traurigkeit, die das Innerste erschüttert haben muss. »Ich war wirklich beeindruckt, mit welcher Sensibilität die jungen Männer dieses Thema umgesetzt haben«, lobt Neuwald-Tasbach die gelungene Arbeit. Die Figur wird damit Teil der jährlichen Gedenkveranstaltung für die am 11. September 1944 ums Leben gekommenen Frauen aus den Zwangsarbeitslagern.

gäste Zur Einweihung des neuen Gedenkortes erschienen viele Gäste: der Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen, Frank Baranowski, Vertreter von BP, Nachfolgefirma der Gelsenberg Benzin AG, Angehörige des ehemaligen Chefarztes des St.-Josef-Hospitals, Rudolf Bertram, der 17 jüdische Frauen nach dem Bombenangriff rettete.

Auch der Sohn einer dieser Frauen, Francois Pollak, reiste in Vertretung seiner 91-jährigen Mutter Rosa Pollak aus Antwerpen an. Ihre Schwester Frida Paszternak liegt hier begraben. Der 72-Jährige formulierte in seinem Grußwort die Fassungslosigkeit darüber, dass rechtsextremistische Parteien in Europa eine so große Zustimmung erhielten. »Nur wenn wir immer wieder an die Geschichte erinnern, können wir vielleicht Schlimmeres verhindern«, sagte Pollak.

Eine neue Namensliste der begrabenen Jüdinnen und eine Erinnerungstafel zu ihrer Geschichte ergänzen die Skulptur. »Ihr Werk wird weitere Herzen öffnen und dazu beitragen, dass so eine Katastrophe nicht noch einmal passiert«, sagte Judith Neuwald-Tasbach zu den jungen Steinmetzen.

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