Gelsenkirchen

Lernen, was Ausgrenzung bedeutet

Deportation, Lager, Mord: Am Vortag hatte er zum ersten Mal Schindlers Liste gesehen, am nächsten Tag einen Film über die Erschießungen in Bikernieki bei Riga – der junge Schüler wirkt verunsichert. »Ich meine das nicht respektlos«, sagt der 15-Jährige und fragt vorsichtig: »Wäre es nicht besser, wenn wir das alles vergessen würden?« Das Gesehene scheint ihn erschüttert zu haben.

»Wir dürfen nicht vergessen, was passiert ist«, entgegnet Verena Effgen. Die Bildungsreferentin des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Volksbund) ist in die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen gekommen, um den Schülern die Arbeit des Vereins in Riga vorzustellen und zu erklären, welche Gefahr das Vergessen birgt. Zwei Wochen lang wurde in der Gemeinde die Ausstellung Bikernieki – Wald der Toten gezeigt, die an die Deportation deutscher Juden nach Riga und ihre Ermordung erinnert; und sie zeigt auch, wie der Volksbund mit der Gedenkstätte nahe der lettischen Hauptstadt Erinnerungsarbeit leistet.

Erinnerungsarbeit Bevor die Schau Gelsenkirchen verlässt, hat die Gemeinde noch einmal für die Erinnerungsarbeit besonders wichtige Gruppen eingeladen: »Zusammen mit dem Volksbund haben wir Gelsenkirchener Schulen angeboten, von einem Vertreter des Vereins durch die Ausstellung begleitet zu werden und darüber sprechen zu können«, sagt die Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach. »Es lohnt sich, diese Ausstellung anzuschauen. Wir sehen schreckliche Orte aus der Vergangenheit, die unmittelbare Auswirkungen auf heute haben. Wenn wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, dann werden wir auch eine bessere Zukunft haben.«

Gerade führt Verena Effgen die neunte Klasse einer Realschule durch die Ausstellung. An dieser Schule gibt es »Probleme«, erzählt die Schulseelsorgerin Eva Wawro. »Akzeptanz und Toleranz lassen manchmal zu wünschen übrig. Wir wissen, dass es in dieser Klasse antisemitische Haltungen gibt.« 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen an dieser Realschule haben einen Migrationshintergrund, schätzt Wawro, »mehrheitlich muslimisch«.

Die Neuntklässler beschäftigen sich in mehreren Fächern mit dem interreligiösen Dialog. Doch die Jugendlichen seien schon »sehr geprägt«, merkt Wawro an. Auf dem Schulhof hört sie »Du Jude« als Beleidigung, und auch im Politik- und Geschichtsunterricht bemerke man, dass die Schüler »ihre Haltung im Palästinakonflikt aus dem türkischen Fernsehen« haben.

Empathie »Vorhin hat eine Schülerin gesagt: ›Das hat doch gar nichts mit mir zu tun‹«, erzählt Effgen vor der Gruppe. Warum stehe sie also überhaupt vor der Klasse? »Damit nicht vergessen wird, was passiert ist«, antwortet ein Schüler. Zum Beispiel, was am 27. Januar 1942 auf dem nahe gelegenen Bahnhof geschah: »An diesem Tag rollte der erste Deportationszug mit jüdischen Kindern, Frauen und Männern in Richtung Osten.«

Effgen erzählt von den Hallen in der Nähe der Georgstraße, in denen die Juden zuvor eingesperrt waren, von den Stolpersteinen, die heute in der Stadt an verschleppte und ermordete Menschen erinnern. Über diese Orte, die die Schüler kennen, sollen sie eine Beziehung zur Geschichte entwickeln.

Klassenlehrer Ismail Soylu begleitet die Jugendlichen an diesem Tag. Er weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, um ihre Vorurteile zu bekämpfen, die sie manchmal zu Hause oder in den Gemeinden, häufig durch arabische Medien vermittelt bekommen. »Nächstes Jahr sind sie weg«, dann haben sie ihren Abschluss und verlassen die Schule. Aber »allein schon hier zu sein, in der Synagoge, ist wichtig. Es ist die Summe der kleinen persönlichen Erlebnisse, die etwas verändern können«, sagt Soylu und erzählt den Schülern aus seiner eigenen Kindheit. »Ich bin aufgewachsen wie ihr. Ich bin ein Kind von Gastarbeitern. Ich habe viel Ausgrenzung erlebt, bin nicht in die Disko gekommen, hatte Stress auf dem Schulhof, man wollte mich verprügeln – hat man aber nicht geschafft.«

ERlebnisse Die Jugendlichen lachen, hören ihrem Lehrer zu. Der erzählt ihnen von »Schlüsselerlebnissen«, die er in seiner Jugend hatte. »Eines war in Buchenwald, ich war ein bisschen älter als ihr. Ihr könnt euch das nicht vorstellen, diese Baracken.« Ein anderes ereignete sich damals an seiner Schule, »da war eine israelische Theatergruppe zu Gast.

Ich stand draußen mit einem Freund, auch Türke, da kamen ein Junge und ein Mann von der Theatergruppe zu uns und haben uns angesprochen – auf Türkisch! Die haben besser Türkisch gesprochen als ich«, erzählt Soylu. »Sie waren Nachkommen von spanischen Juden, die in die Türkei geflüchtet waren. Die Theaterleute haben mir eine Kassette mit spanisch-jüdisch-türkischer Musik gegeben. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt« – die Schüler vorher auch nicht. »Es sind diese kleinen Dinge, die prägen. Und ich hoffe, dass der heutige Tag für euch ein Schlüsselerlebnis war«, sagt Lehrer Soylu.

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