Scheu vor dem großen Auftritt, scheinen Judith Anna Sophia Gomm und ihr Bruder Benjamin nicht zu kennen. Wenn sie gemeinsam auf die Bühne treten, dann gehört sie ihnen, und im Publikum wird es binnen Sekunden still. Die zwölfjährige Judith in ihrem weißen Kleid, die dunklen Haare zu einem strengen Zopf zusammengebunden, und der sechs Jahre jüngere Benjamin, in Anzughosen und gestärktem Hemd, wirken im ersten Moment, als hätten sie sich an diesem Sonntagnachmittag zum »Erwachsenspielen« verabredet.
eifer Dann greifen beide zu ihren Violinen. Hinter ihnen hat ihre Mutter Helena am Klavier Platz genommen. Die ersten Takte von Obers »Tambourine« erklingen und fast synchron setzen Judith und Benjamin ein. Die gut 300 Besucher im großen Saal des Frankfurter Ignatz-Bubis Gemeindezentrums lauschen gebannt. Judith fixiert das Blatt auf dem Notenständer vor sich, der fast genau so groß ist wie sie selbst. Benjamin hingegen lässt die Blicke schweifen, über die besetzen Stuhlreihen, die gezückten Digitalkameras und seine Altersgenossen, die auf ihren Auftritt bei »Unsere Jugend musiziert« warten. Irgendwo im Publikum entdeckt er vielleicht seinen Vater Benedikt Gomm, über dessen Gesicht sich längst ein Ausdruck von Rührung und Stolz gelegt hat. »Er spielt seit drei Jahren«, verrät er, »ohne Noten«.
Wer an diesem Sonntag zufällig das Gemeindezentrum betritt, könnte glauben in einer Art Casting gelandet zu sein. Tatsächlich aber ist dieser musikalische Nachmittag in der jüdischen Gemeinde die absolute Antithese zum Casting-Hype im deutschen Fernsehen. Keine Juryurteile, kein Recall. Mitmachen darf jeder, der möchte – soweit er noch nicht volljährig ist. »Wir wollten allen Kindern die Möglichkeit geben, einmal Bühnenluft zu schnuppern«, erklärt Benjamin Brainman, Leiter des Frankfurter Synagogenchors und Organisator von »Unsere Jugend musiziert«.
So viel Aufmerksamkeit scheinen die meisten der jungen Künstler – die jüngsten von ihnen sechs, die ältesten 15 Jahre alt – nicht gewohnt zu sein. Ein kleiner Knicks, eine Verbeugung zur Begrüßung, dann schnell ans Instrument, Violine oder Klavier. Große Namen stehen auf dem Programm: Beethoven, Chopin, Mendelssohn, kurze Stücke meist. Kaum ein Auftritt dauert länger als zwei Minuten. Dann die schwierigste Übung: Die Ovationen der Zuhörer entgegennehmen.
Stolz Für viele Kinder ist es der erste Auftritt vor einem größeren Publikum, der Tag der besten Anzüge und Kostüme, der leichten Verlegenheit, roter Wangen und schüchterner Blicke. Aber auch der Tag der Videokameras und vor Stolz strahlender Elterngesichter. Natürlich sitzen nicht alle Töne, kommen die Einsätze auch mal zu spät. Für Benjamin Brainman aber ist das Nebensache. »In erster Linie geht es darum, dass die Kinder merken, dass sie unterstützt werden.«
Das gemeinsame Musizieren empfindet der Musikschulleiter als Ausdruck jüdischer Identität. »Vor allem bei den Einwanderern«, glaubt er, »wird viel Wert auf die kulturelle Bildung der Kinder gelegt.« Musik gehört für die meisten dazu. So sieht es auch Dieter Graumann, Kulturreferent der Frankfurter Gemeinde. »Das Konzert zeigt einmal mehr, was für eine Bereicherung die Zuwanderer mit ihrer Kulturbeflissenheit für unsere Gemeinden darstellen«, sagt er. »Die Kulturbegeisterung ist im Judentum tief verwurzelt, im osteuropäischen Judentum besonders.« In diesem Sinne käme den seit sechs Jahren verabstalteten Konzerten auch eine integrative Aufgabe zu. »Das ist Kultur von unserer Gemeinde für unsere Gemeinde«, so Graumann, »etwas, das Menschen zusammenführt, über Generationen und kulturelle Grenzen hinweg.«
ERbe Benjamin Gomm kümmert sich um keine Theorie. Er ist die Ruhe selbst und absolviert seinen Vortrag, als wäre das Publikum gar nicht vorhanden. »Dabei ist es sein erster Auftritt«, betont seine Mutter, Helena Gomm. Musizieren liegt bei den Gomms in der Familie. Mutter Helena ist Pianistin, Vater Benedikt spielt Cello. »Und wir versuchen, jeden Tag gemeinsam zu üben«, sagt Helena Gomm.
Am Ende des zweistündigen Konzerts sind fast 80 Kinder und Jugendliche aufgetreten. »Ein oder zwei haben das Talent auch professionell zu arbeiten«, glaubt der Musikschulleiter, »für alle anderen ist es Freizeitbeschäftigung. Und das ist gut so.«