Würzburg

Jung, jüdisch, traditionell

Frauen lagern auf großen Kissen unter Zeltdächern, Kinder rennen um sie herum und spielen jauchzend Fangen. Auf einer Decke räkelt sich genüsslich ein Baby, während aus der Synagoge gedämpft der Gesang der Männer schallt. Wer am vergangenen Schabbatmorgen den Innenhof des jüdischen Gemeindezentrums »Schalom Europa« in Würzburg betrat, konnte ein fast biblisch anmutendes Idyll entdecken.

Diese kleine Oase im Sonnenlicht war so etwas wie ein Luftholen, eine kleine Atempause zwischen den vielen anregenden Seminaren, Diskussionen und Vorträgen, zu denen sich am vergangenen Wochenende rund 160 meist junge Leute aus allen Teilen der Bundesrepublik versammelt hatten.

Familie Und vielleicht bot diese friedliche Szene auch schon so etwas wie eine Antwort auf die Frage, die sich dieser Schabbaton gestellt hatte, galt es doch: »Zeitlose Werte in einer wertelosen Zeit« zu ermitteln. »Familie« könnte zweifelsohne einen solchen Wert verkörpern, immerhin waren 30 Kinder im Alter zwischen drei Monaten und 15 Jahren mit nach Würzburg gekommen.

»Freundschaft« ebenso: »Freunde aus Jahrzehnten wiedertreffen« – auch das nannten viele Teilnehmer als ein wichtiges Motiv, warum sie sich für dieses Seminar, das vom Bund traditioneller Juden (BtJ) bereits zum zweiten Mal in Kooperation mit dem 3-Rabbiner-Seminar, Jewish Experience und Morasha Germany veranstaltet wurde, angemeldet hatten.

Denn die meisten Besucher haben seit ihrer Jugend immer wieder an solchen Wochenenden teilgenommen, weil sie wussten, dass sie dort auf Gleichgesinnte mit einer ähnlichen Sehnsucht und einem ebenso großen Wissensdrang nach allem, was zur jüdischen Tradition und Lebenspraxis gehört, treffen würden. So wie die Event-Managerin Daniela Kalmar-Schönberger aus Berlin, die den Ablauf des Wochenendes geplant hatte, oder Leute wie Anna und Pawel Segal, die auch schon eine Reihe solcher Veranstaltungen organisiert haben und für die eine Begegnung wie jetzt in Würzburg ein einziges großes Wiedersehen mit Weggefährten aus vielen Jahren bedeutet.

Nachbarn »Für meine Mutter war Jüdischsein dasselbe wie Ausgegrenztsein«, erinnert sich Anna. »Ich aber wollte eine positive jüdische Identität für mich entwickeln.« Mit zwölf Jahren ist sie mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Leipzig gekommen. Heute, mit 27 Jahren, lebt sie dort mit Mann und Kind – ein weiteres ist unterwegs – in unmittelbarer Nachbarschaft zur Synagoge und in einer Gemeinschaft mit anderen religiösen Familien zusammen. Und damit sie nicht mehr immer alle nach Wien zum Einkaufen fahren müssen, hat ihr Mann Pawel vor einiger Zeit einen eigenen koscheren Laden in Leipzig eröffnet. Ihr nächstes großes Projekt, das sie mit Tatkraft anpacken wollen: die Gründung einer jüdischen Schule in ihrer Stadt.

Genau um solche praktischen Fragen, um den Austausch von Erfahrungen, Tipps und Informationen für die Ausgestaltung des jüdischen Lebens in den Heimatgemeinden ging es an diesem Wochenende. Das ist auch ganz im Sinne des Präsidenten des BtJ, Michael Grünberg, der die Aufgabe seiner Organisation darin sieht, Gemeinden gleichermaßen logistisch wie auch spirituell bei der Verwirklichung traditionell jüdischer Werte zu unterstützen. »Dabei sehen wir uns keinesfalls in Konkurrenz zu den anderen jüdischen Denominationen«, betont Grünberg.

Dass so viele junge Leute – Paare, Familien und Singles – zu diesem Schabbaton nach Würzburg gekommen sind, erfüllt ihn sichtlich mit Freude. Denn er weiß, dass es an ihnen liegt, die kleineren Gemeinden überall im Bundesgebiet am Leben zu erhalten.

Aufbau Grünberg selbst ist seit vielen Jahren Vorsitzender der etwa 1000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde in Osnabrück und hat dort unter anderem erfolgreich einen jüdischen Kindergarten unter christlicher Trägerschaft aufgebaut. Denn wenn in den Familien das Wissen um jüdische Traditionen fehlt, müssen Einrichtungen wie Kindergärten, Jugendzentren und Schulen diese Lücke füllen, ist der Vorsitzende des BtJ überzeugt.

Zum Beispiel mit Veranstaltungen wie diesem Schabbaton, der auch in spiritueller Hinsicht viel zu bieten hatte. So fanden sich am Schabbat zum Morgengebet tatsächlich zwölf Rabbiner in der Würzburger Synagoge ein. Vor allem aber die Vorträge von Pinchas Goldschmidt, dem amtierenden Oberrabbiner von Moskau und Präsidenten der Conference of European Rabbis (CER), fesselten und beschäftigten die Zuhörer bis tief in die Nacht.

Am Vorabend des Schabbats hatte Goldschmidt bis weit nach Mitternacht über das Thema Giur (Übertritt) auf Basis des Talmud gesprochen, und was er dabei ausgeführt hatte, wurde auch am nächsten Tag noch in vielen kleinen Grüppchen begeistert diskutiert. Am Schabbat selbst saß der Oberrabbiner mittags auf dem Podium und analysierte gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Würzburger Gemeinde, Josef Schuster, und Vertretern beider christlicher Konfessionen »Selbstbezogenheit und Werteverlust in der modernen Gesellschaft«.

Freiheit Dabei herrschte sofort Einigkeit unter den Beteiligten, dass die von den Religionen vermittelten Werte stets zeitgemäß bleiben und einer Tendenz zu Egozentrismus und Vereinzelung entgegenwirken können. Von Moderator Bernhard Quensel (Jewish Experience Frankfurt) danach gefragt, definierte Goldschmidt den Begriff der Freiheit, den er darin verwirklicht sieht, dass das jüdische Volk mit dem Auszug aus Ägypten nur Gott unmittelbar und keiner anderen Macht untersteht.

In der Diaspora erkennt Goldschmidt Freiheit auch in dem »Recht der jüdischen Minorität auf Anderssein«. Vor allem aber sprach Goldschmidt über die Freude, ohne die die Einhaltung der Mizwot nichts wert sei. Und dass Freude und das »Joch der Tora« durchaus zusammenpassen, das konnte man wohl nirgendwo besser als an diesem Wochenende in Würzburg erleben.

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