Wiesbaden

Jahrhundert-Freundinnen

Als die 13-jährige Eva Wertheimer, Tochter eines Bankdirektors, 1927 mit ihren Eltern von Peine nach Wiesbaden zieht, kann sie ihre Brieffreundin Gabriele Netter endlich persönlich treffen. Gabriele stammte wie Eva aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, ihren Eltern gehört das bekannte Juweliergeschäft Netter.

Gabi ist Mitglied in einer Pfadfindergruppe. Eva liebt Tanzen und Tennisspielen. Das sorglose Leben der Mädchen verändert sich 1933 schlagartig. Jahrzehnte später wird die eine durch den Stammtisch für Emigranten und Schriftsteller in New York bekannt, während die andere mit ihrem Zeitzeugen-Engagement viele Menschen berührt.

Ausgrenzung Ab 1933 wandten sich christliche Freunde von den beiden Mädchen ab. Als Gabi Netter 1937 als Mitglied des Deutschen Juweliervereins nach New York reist, denkt sie zum ersten Mal darüber nach, die Heimat zu verlassen. In der Pogromnacht 1938 wird das Juweliergeschäft der Eltern zerstört. Gabi Netter emigriert im selben Jahr nach New York. Als sie die geforderten amerikanischen Bürgen vorweisen kann, holt sie auch ihre Eltern nach.

Eva Wertheimer ergeht es inzwischen in Wiesbaden wesentlich schlechter: Sie muss Zwangsarbeit leisten und wird im August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort muss sie miterleben, wie ihre Eltern verhungern. 1944 kommt sie nach Auschwitz. »Die Ankunft in Auschwitz-Birkenau war der schrecklichste Moment, unvorstellbar. (…) Die Selektion, nackt vor der Gestapo und unsere Angst, dass aus der Dusche Gas statt Wasser kommen wird.«

Medaillons
Von zwei Medaillons, die ihr ein Freund in Theresienstadt zu ihrem 30. Geburtstag schenkte, will sie sich nicht trennen, obwohl alle Gegenstände abgegeben werden müssen. Sie versteckt sie unter der Zunge. »Die Medaillons sind mit mir durch alle Selektionen gegangen. Ich kenne niemanden, der etwas aus Auschwitz herausschmuggeln konnte. Heute kann ich nicht mehr verstehen, wie ich so mutig sein konnte.«

Von Auschwitz wird sie über das KZ Stutthof ins Landesinnere verschleppt, sie soll Panzergräben ausheben. Als die russische Armee anrückt, wird Eva mit zwei anderen Frauen nicht als Jüdin erkannt und von Soldaten mit geladenen Gewehren an die Wand gestellt. »Ganz plötzlich – mit lauter Stimme – sang meine Kameradin Erna das ›Sch’ma Israel‹, und Ilse und ich stimmten mit ein. In diesem Augenblick rannte ein russischer Offizier herbei und schrie auf Russisch ›Halt!‹.«

Vereinigte Staaten Eva Wertheimer kehrt nach Wiesbaden zurück. 1947 geht sie mit Julius Gerstle, einem jüdischen US-Soldaten, in die Vereinigten Staaten und gründet eine Familie. Seit 1976 leben sie in San Diego. Ihren Töchtern verschwieg sie ihre Vergangenheit. Von der Fernsehreihe Holocaust animiert, fragten sie die Mutter nach der tätowierten Nummer auf ihrem Arm, und diese fing an zu erzählen. Von der Verdrängung der Vergangenheit befreit, trat sie dem »New Life Club of Holocaust Survivors« bei und begann ihre Zeitzeugenarbeit. Auf Umwegen erhält sie die Adresse von Gabi, die mittlerweile Glückselig heißt. 1993 treffen sie sich in Washington wieder.

Die Wiesbadener Freundin hatte in New York Fritz Glückselig geheiratet, der unter dem Pseudonym Friedrich Bergammer als Lyriker bekannt wurde. Seit Jahrzehnten veranstaltet Gabi Glückselig – zunächst mit ihrem Mann und dann alleine – jeden Mittwoch in New York einen Stammtisch für deutschsprachige Emigranten, der 1943 ursprünglich von Oskar Maria Graf gegründet wurde. Daneben setzte sich Gabi Glückselig auch für die Erinnerungsarbeit ein – nach ihrer Pensionierung betreute sie die Fotosammlung des Leo-Baeck-Instituts.

Bürgermedaille 1997 schlug Lothar Bembenek, Gründer des Aktiven Museums in Wiesbaden, Eva Gerstle für ihr Zeitzeugen-Engagement an Wiesbadener Schulen für die Bürgermedaille vor und schrieb an den zögernden Oberbürgermeister: »Wir sollten ihr dankbar sein, dass sie trotz ihres Leidensweges (…) wieder hierher zurückkam und uns ihre, bei jeder Erinnerung wieder nacherlebten, schmerzhaften Erfahrungen vermittelte.«

1998 erhielt Eva Gerstle die Goldene Bürgermedaille der Stadt Wiesbaden. 2002, zwei Jahre, bevor Gabi Glückselig ebenfalls mit der Goldenen Bürgermedaille ausgezeichnet wurde, trafen sich die Frauen noch einmal in Wiesbaden. In der Regel telefonieren die beiden auch heute noch regelmäßig miteinander. Am 20. und am 27. April dieses Jahres wurden sowohl Eva Gerstle-Wertheimer als auch Gabi Glückselig 100 Jahre alt.

Porträt

Kiel – Alles in einem

Von Sozialberatung über Kinder- und Jugendtheater bis zu Sprachkursen: In der Kieler Gemeinde ist alles unter einem Dach vereint

 16.06.2022

Porträt

Mainz – Neue Synagoge mit langer Tradition

Einst war Mainz Teil der legendären SchUM-Städte, heute steht dort eine ganz besondere Synagoge

 16.06.2022

Porträt

Speyer – Eine traditionsreiche Gemeinde

Im Mittelalter war Speyer ein wichtiges Zentrum des Judentums. Heute hat die Gemeinde wieder 567 Mitglieder

 16.06.2022

Porträt

Kaiserslautern – xxx

xxxxx

 16.06.2022

Berlin

Bundespräsident besucht Geflüchtete

Frank-Walter Steinmeier trifft Kinder und Jugendliche aus Odessa im Jüdischen Bildungszentrum

von Joshua Schultheis  07.03.2022

Düsseldorf

Die Makkabäer sind los!

Zum dritten Mal findet in Nordrhein-Westfalen das größte jüdische Sportfest Deutschlands statt

 03.09.2021 Aktualisiert

Brandenburg

Jüdische Gemeinden feiern 30 Jahre ihrer Wiedergründung

Mit einem Festakt begingen rund 150 Gäste aus der jüdischen Gemeinschaft und der Landespolitik das runde Jubiläum

 01.09.2021

Jubiläum

Seit 151 Jahren Teil der Stadtgesellschaft

1870 beschlossen elf Männer, in Gelsenkirchen eine eigene jüdische Gemeinde zu gründen - jetzt wurde an sie erinnert

von Michael Thaidigsmann  30.08.2021

Bremen

Neue Torarolle zum Jubiläum

In der Hansestadt feierte die jüdische Gemeinschaft am Wochenende den 60. Jahrestag der Eröffnung ihrer Synagoge

von Michael Thaidigsmann  30.08.2021