Porträt der Woche

»Ich mache, was ich will«

Minna Plissezkaja ist 92 Jahre alt, wohnt in Köln und führt ein selbstbestimmtes Leben

von Matilda Jordanova-Duda  08.08.2016 22:19 Uhr

»Hauptsache, sie sind alle gesund«: Minna Plissezkaja hat eine Tochter, zwei Enkelinnen und einen Urenkel. Foto: Jörn Neumann

Minna Plissezkaja ist 92 Jahre alt, wohnt in Köln und führt ein selbstbestimmtes Leben

von Matilda Jordanova-Duda  08.08.2016 22:19 Uhr

Mit 92 Jahren kann ich so leben, wie ich will. Ich stehe auf, wann ich will, ich gehe ins Bett, wann ich will. Ich darf bis Mitternacht wach bleiben oder bis in die Puppen schlafen. Nach all den Jahren, in denen ich schwer geschuftet habe, habe ich beschlossen, endlich das zu tun, was ich möchte. Ich muss niemandem Rechenschaft ablegen. Deshalb habe ich keine Pläne, keine Tagesordnung.

Zum Glück komme ich noch sehr gut allein zurecht. Ich brauche keine Hilfe beim Putzen oder Einkaufen. Die Geschäfte sind nicht weit, und die Straßenbahnhaltestelle kann ich vom Fenster aus sehen. Ich wohne in einem sehr angenehmen ruhigen und grünen Wohnviertel in Köln und lebe seit 21 Jahren in diesem Haus – seit ich nach Deutschland gekommen bin, die Monate im Aufnahmelager und im Wohnheim ausgenommen.

familie Wie heute auch, war es damals sehr schwer, eine gute Wohnung zu finden, weil so viele einwanderten. In unserem Haus gibt es Polen, Russlanddeutsche, Engländer – alle möglichen Leute. Meine Tochter ist auch schon Rentnerin. Ich habe zwei Enkelinnen und sogar einen Urenkel. Sie leben alle in Köln oder in Düsseldorf. Hauptsache, sie sind alle gesund, mehr brauche ich nicht.

Manchmal ruft mich eine alte Freundin an, die nicht weit entfernt wohnt. Wir verabreden uns ab und zu und setzen uns in ein Café. Früher bin ich regelmäßig in die Synagoge gegangen, aber das fällt mir jetzt schwer.

Auf der Straße brauche ich den Rollator, und von der Haltestelle bis zur Synagoge muss man ziemlich lange zu Fuß laufen. Zuletzt war ich dort, um den Jahrestag des Sieges über Nazideutschland und des Kriegsendes zu feiern. Man holte mich mit dem Auto ab, und ich trug meine Medaillen als Kriegs- und Arbeitsveteranin.

Zwei Leben Für mich gibt es ein Leben vor dem Zweiten Weltkrieg und ein ganz anderes danach. Ich hatte die Schule einen Monat vor Kriegsbeginn abgeschlossen. Ich war erst 17, und damit die jüngste in der Klasse. Ich meldete mich freiwillig, aber als Minderjährige wollte man mich nirgendwo einsetzen. Dann wurde in meiner ehemaligen Schule ein Krankenhaus eingerichtet, und ich durfte als Helferin in der Röntgenabteilung anfangen.

Als ich 18 Jahre alt wurde, verpflichtete man mich zur Arbeit in einer Flugzeugfabrik. Ich wurde zur Montage eingeteilt. Man brachte uns das Flugzeuggerippe, und wir statteten es mit Funkgeräten und Technik aus und befestigten die Bomben daran. Wir lebten in Baracken neben dem Werk, schliefen in Hochbetten und legten den Koffer als Kissen unter den Kopf. Einmal am Tag gab es Essen – irgendeinen schwer definierbaren Brei.

Den Jubel beim Kriegsende – den gab es vorher nie und auch nachher nicht. Die Leute gingen auf die Straße mit Blumen und Weinflaschen, die Veteranen auf ihren Krücken. Und das Feuerwerk war so, dass man den Himmel nicht sah! Moskau schlief mehrere Tage nicht, alle waren auf den Beinen und draußen.

Kino Nach Abschluss meines Studiums mit Schwerpunkt Verbrechensbekämpfung fing ich an, als Untersuchungsrichterin zu arbeiten. Für eine Frau war das ein schlechter Beruf, denn ich musste oft nachts zum Verhör raus und Gefängnisse besuchen. Meinem künftigen Ehemann gefiel das gar nicht.

Ich versprach ihm, etwas anderes zu suchen und fand Arbeit als juristische Beraterin beim Filmstudio. Dieser Job langweilte mich eigentlich, die Arbeit der Kinoleute, die Aufnahmen, das zog mich jedoch an. Da habe ich gleich den Beruf gewechselt.

Ich habe berufsbegleitend die Kinohochschule absolviert und wurde Regieassistentin. Wir haben überall in der Sowjetunion wissenschaftliche Streifen gedreht. Was für interessante Menschen habe ich dadurch kennengelernt! 48 Jahre lang habe ich gearbeitet, buchstäblich bis zum letzten Tag vor der Ausreise.

auswanderung In den 90ern, als Jelzin an die Macht kam, hat man das Land ruiniert. Die künftigen Oligarchen haben sich die Gold-, Gas- oder Kohlevorkommen unter den Nagel gerissen. In den Läden gab es nichts. Die Leute wanderten aus.

Mein Bruder ging mit seiner Familie nach Amerika, doch ich wollte unbedingt nach Deutschland. Warum? Mein Papa war Soldat im Ersten Weltkrieg und geriet in deutsche Gefangenschaft. Er musste als Krankenpfleger in Mannheim arbeiten und lebte bei einem Maler. Er hat uns Kindern viel darüber erzählt, wie gut die Familie des Malers zu ihm war und wie sehr ihm Deutschland gefiel. Diese Ordnung, diese Pünktlichkeit. Ich habe noch alle seine Fotos aus der Zeit.

Gern würde ich herausfinden, wo Vater in Mannheim lebte und die Fotos den Nachfahren des Malers zeigen. Leider kenne ich seinen Namen nicht. Auf Papas Charakter haben die Erfahrungen in Deutschland abgefärbt. Diese Pünktlichkeit und Genauigkeit und all das ist ihm ein Leben lang geblieben, und er hat es uns anerzogen.

Primaballerina Als meine Tochter und ich 1995 hierherkamen, war Deutschland natürlich ganz anders. Aber es gefällt mir. Es ist ruhig, die Leute sind freundlich zueinander, anders als in Russland. Man begrüßt einen höflich und zeigt einem, was man braucht. Nicht von ungefähr hat Papa so viel Gutes erzählt.

Mein Cousin in den USA hat den Stammbaum der Familie Plissezki zusammengestellt und als Buch herausgegeben. Er führt ihn auf das Jahr 1830 zurück. Da ist alles über die Herkunft unserer Familie und alle ihre Verzweigungen enthalten. Die berühmteste Person darin ist zweifellos meine Cousine Maja Plissezkaja, die Primaballerina des Bolschoi-Theaters.

Sie war Tochter des jüngeren Bruders meines Vaters und meine beste Freundin. Sie war ein ungewöhnlicher Mensch! Sehr scharfzüngig und witzig, konnte sie es nicht leiden, wenn man ihr schmeichelte. Sie spürte sofort die Unaufrichtigkeit. Wenn allerdings etwas vom ganzen Herzen kam, reagierte sie entsprechend.

Kürbiskerne Maja war schon mit 25 eine verdiente Künstlerin der Sowjetunion, mit 30 Volkskünstlerin. Sie hatte praktisch alle Auszeichnungen, die es auf der Welt gibt. Und dennoch hat man sie unterdrückt, wo man konnte. Sie hielt nämlich mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg.

Es gab Intrigen im Theater, man wollte ihre Rollen anderen Personen mit Beziehungen oder der richtigen Parteizugehörigkeit zuschustern. Aber mit Maja konnte sich keine vergleichen. Das war so eine Prima, man nannte sie die »Ballerina des Jahrhunderts«.

Sie mochte Witze: erzählte selber welche und hörte auch gern zu. Maja liebte es, Kürbiskerne zu knacken. Ich besuchte sie oft nach den Proben und brachte ihr welche mit, weil ich in der Nähe eines Marktes wohnte. Meine kleine Tochter kam manchmal mit. Maja mochte sie sehr, weil es bei uns in der Familie sonst nur Jungs gibt.

Einmal besuchten wir beide Maja, als sie für das Ballett »Romeo und Julia« probte. Wie unterhielten uns, meine Tochter guckte sich währenddessen im Raum um und setze sich den Kopfschmuck der Julia auf. Sie war dreieinhalb Jahre alt. Maja fragte sie: Inna, willst du auch zum Ballett? – Nein! – Wieso nicht? Alle Mädchen wollen zum Ballett! – Nein, da muss man schweigen! Maja brach in großes Gelächter aus.

jahrhundert Sie war ein Jahr jünger als ich und tanzte bis zuletzt. Früher habe ich alle Vorführungen von Maja besucht. Einige Male bin ich in den letzten Jahren nach Moskau zurückgekehrt, denn meine engsten und langjährigsten Freundinnen sind dort. Heute kann ich nicht mehr hin, deshalb sprechen wir ab und zu am Telefon.

Computer und Internet, das ist nicht meins. Ich verstehe mich nicht auf technische Dinge. Der Fernseher ist alles, was ich an Gerätschaften habe. Da gucke ich deutsche und russische Programme. Das reicht mir. Ich habe nicht einmal ein Handy – ich bin eben ein Mensch aus dem letzten Jahrhundert.

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