Porträt der Woche

»Ich bin der Letzte«

Max Schwab ist Gemeindeältester in Halle und erlebte die Pogromnacht 1938

von Tobias Kühn  10.11.2019 08:45 Uhr

Fühlte sich nach dem Terroranschlag am Jom Kippur an die Pogromnacht erinnert: Max Schwab (87) Foto: Stephan Pramme

Max Schwab ist Gemeindeältester in Halle und erlebte die Pogromnacht 1938

von Tobias Kühn  10.11.2019 08:45 Uhr

Ich vermisse meinen Bruder. Jeden Tag denke ich an ihn. Günther ist 1996 bei einem Autounfall ums Leben gekommen und fehlt mir sehr. Als er starb, hatte ich das Gefühl, es würde etwas aus meinem Herzen herausgerissen.

Wir waren eineiige Zwillinge und steckten als Kinder und Jugendliche immer zusammen. Günther war der Erstgeborene. Er war das Regiment von uns beiden. Im Prinzip waren wir beide gleich, aber er war der Chef. Er war der Besonnenere und ich der Impulsivere.

DDR Beide sind wir Geologen geworden – aber Halle zu verlassen und zum Studium nach Berlin zu gehen, das war Günthers Idee. Er ist dann dort geblieben, arbeitete am Zentralen Geologischen Institut der DDR, und nach der Wende wurde er Präsident des Geologischen Landesamtes Brandenburg.

Ich kehrte nach dem Studium nach Halle zurück, wurde promoviert, habilitierte mich und erhielt 1983 die Professur für Regionale Geologie. Mein Spezialgebiet waren die Geologie und Tektonik des Harzes. Außerdem war ja in der DDR-Zeit im Ostblock vieles zusammengeschlossen. So war ich Teil einer Forschungsgruppe, die in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Lagerstätten von Bodenschätzen untersuchte.

GEOLOGE Ich bin jetzt 87, seit Langem emeritiert und versuche gerade, mein Arbeitszimmer und mein Geologiearchiv zu ordnen. Viele meiner Arbeiten sind ja inzwischen digitalisiert, deshalb werfe ich die gedruckten Aufsätze weg. Beim Sichten und Auswählen hilft mir mein jüngster Sohn Markus. Er ist auch Geologe. Er arbeitet am Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam.

Als mein Bruder Günther starb, hatte ich das Gefühl, es würde etwas aus meinem Herzen herausgerissen.

Aber nicht nur er ist mir eine Hilfe – die größte Hilfe ist meine Frau Jutta, und das seit vielen Jahren. Sie ist das Musterbeispiel dafür, dass hinter jedem erfolgreichen Mann eine starke Frau steht. Sie ist Schneiderin und war früher Innungsmeisterin von Thüringen. Damit ich arbeiten konnte, hat sie ihren Beruf an den Nagel gehängt und sich um unsere drei Söhne gekümmert.

Familie Ohne Jutta wäre ich heute kaum in der Lage, mich allein zu versorgen. Seit einiger Zeit hilft sie mir auch beim Kommunizieren, denn manchmal fallen mir die Worte nicht ein, die ich sagen möchte.

Ohne Jutta könnte ich nicht mehr in unserer schönen Wohnung leben. Das Haus, in dem wir wohnen, liegt am Rand von Halle, sehr reizvoll, direkt an der Saale. Vom Wohnzimmerfenster haben wir einen wunderbaren Blick hinüber zur Burg Giebichenstein. Dort ist die Kunsthochschule untergebracht. Unser mittlerer Sohn Tobias hat dort Design studiert. Heute ist er Regionalgeschäftsführer für die CDU.

Neben Markus und Tobias haben wir noch einen dritten Sohn, Matthias. Er ist in Jena Professor für Neurologie.

KINDER Es ist lustig: Günther hat drei Töchter, und ich habe drei Söhne. Zu jedem habe ich ein gutes Verhältnis. Wir sind ein Team.

Bis heute verreisen die Jungs mindestens einmal im Jahr gemeinsam mit uns Eltern. Manchmal ohne Frauen, manchmal mit – wie es gerade passt. Und jedes Jahr im November fahren wir gemeinsam nach Berlin. Wir gehen dann immer auch auf den Friedhof Weißensee zu Günthers Grab.

Ich kann zum jüdischen Friedhof gehen, wann ich will, ich habe einen Schlüssel fürs Friedhofstor.

Die anderen Gräber meiner Familie befinden sich in Halle, auf dem jüdischen Friedhof direkt neben der Synagoge. Ich besuche sie alle zwei bis drei Wochen. Ich kann hingehen, wann ich will, ich habe einen Schlüssel fürs Friedhofstor.

An den Gräbern war ich auch am Vorabend von Jom Kippur, bevor ich zum Gebet ging. Ich wunderte mich, dass kein Polizeiauto vor der Synagoge stand. Einen Tag später gab es dann während des Gottesdienstes den furchtbaren Anschlag, bei dem vor der Synagoge eine Frau erschossen wurde. Man mag sich nicht vorstellen, was der Täter noch alles angerichtet hätte, wenn er es geschafft hätte, in die Synagoge einzudringen.

Jom Kippur An Jom Kippur selbst war ich nicht in der Synagoge. Das lange Gebet am Vorabend hatte mich einige Kräfte gekostet. Meine Frau war so froh, dass ich während des Anschlags nicht in der Synagoge war – sie hätte schreckliche Angst um mich gehabt.

Unser Sohn Tobias rief uns an und sagte, wir sollten nicht auf die Straße gehen und das Haus abschließen, es habe einen Anschlag vor der Synagoge gegeben. Später haben wir es in den Fernsehnachrichten gesehen. Ich war sehr bestürzt und dachte sofort an die Pogromnacht 1938. Auch damals machten sich in Deutschland rechtsextreme Terroristen über Synagogen her und trachteten Juden nach dem Leben.

Als wir am 10. November in die Schule kamen, sagte uns die Lehrerin unter Tränen, dass wir nicht wiederkommen dürften.

Günther und ich gingen damals in die 1. Klasse. Als wir am 10. November in die Schule kamen, sagte uns die Lehrerin unter Tränen, dass wir nicht wiederkommen dürften. Auch wir mussten weinen. Unsere Mutter kümmerte sich dann darum, dass uns zu Hause eine Waldorflehrerin unterrichtete. Sie war arbeitslos geworden, da das Nazi-Regime diese Schulform verboten hatte. Ihr Unterricht war so gut, dass wir später kein Jahr nachholen mussten, sondern 1945 gleich in die 7. Klasse übernommen wurden.

Pogromnacht Wie viele andere jüdische Männer wurde auch mein Vater in der Pogromnacht verhaftet und ins KZ Buchenwald gebracht. Nach mehr als sechs Wochen kam er frei – unter der Bedingung, dass er Deutschland verlässt. Meine Mutter hatte ihm ein Visum für Holland besorgt.

Als er aus Buchenwald zurückkehrte, saßen wir gerade bei einer Tante und feierten ihren Geburtstag. Plötzlich stand mein Vater in der Tür. Wir Kinder erschraken, als wir ihn dort stehen sahen: grau, ernst, eingefallen, um Jahre gealtert. Er war ein gebrochener Mann. Ich erinnere mich noch sehr genau daran.

Er musste dann das Land verlassen und an der Grenze die deutsche Staatsbürgerschaft abgeben. Doch kam er nun aus den Niederlanden nicht mehr heraus. Die Amerikaner gaben ihm kein Visum, weil er staatenlos war. Er bestritt seinen Lebensunterhalt als Butler und kam später ins Durchgangslager Westerbork. Von dort wurde er nach Auschwitz deportiert.

Sein Zug fuhr durch Halle, dort war der größte Güterbahnhof im Reich. Und wir wohnten ganz in der Nähe. Unser Vater fuhr also fast an unserer Wohnung vorbei.

Aus dem Waggon rief meinVater einem Eisenbahner seinen Namen und unsere Adresse zu und bat ihn, unserer Mutter Bescheid zu sagen.

Aus dem Waggon rief er einem Eisenbahner seinen Namen und unsere Adresse zu und bat ihn, unserer Mutter Bescheid zu sagen. Und obwohl das strengstens verboten war, ging der Bahner zu meiner Mutter und erzählte ihr, dass mein Vater in den Osten transportiert wird.

Wir haben später erfahren, dass Vater unmittelbar nach seiner Ankunft in Auschwitz vergast wurde.

GESTAPO Wir Brüder galten nach den Nürnberger Gesetzen als »Volljuden«. Das war willkürlich, denn unsere Mutter war ja zum Judentum übergetreten, galt den Nazis daher als »arisch« und durfte deshalb ihre »volljüdischen« Kinder behalten.

Doch 1942 änderte sich dies. Die Gestapo teilte ihr mit, dass wir Kinder zur Deportation vorgesehen seien. Nur eine Scheidung könne dies verhindern. Da ihr mein Vater aus Holland geschrieben hatte, sie solle alles tun und sich auf alles einlassen, um uns Kinder zu schützen, stimmte sie schließlich zu.

Wir Kinder mussten daraufhin dem Reichsrassehauptamt vorgestellt werden. Man vermaß unsere Körper, stufte uns als »Mischlinge ersten Grades« ein, und wir rückten in der Deportationsliste nach unten. Trotzdem blieb es gefährlich, denn da wir dem Amt als eineiige Zwillinge vorgestellt worden waren, interessierten sich nun möglicherweise auch andere für uns – man denke nur an Mengele.

Im April 1945 forderte die Gestapo, dass unsere Mutter uns taufen ließ. Wenn sie sich weigerte, würde man uns deportieren. Doch wie durch ein Wunder zerstörten in der Nacht vor dem Termin der Zwangstaufe fünf amerikanische Fliegerbomben das Haus, in dem wir wohnten, und aus der Taufe wurde nichts. Wir waren beim Bombenalarm in den Keller geflüchtet, und die Bomben hatten den Zugang verschüttet. Doch dann kam eine weitere Bombe – und legte den Zugang wieder frei.

Nicht alle in Halle waren Nazis. Das ist einer der Gründe, warum ich nach so viel Leid hier in der Stadt bleiben konnte.

Die Taufe hätte uns aus dem Judentum herausgerissen. Für meinen Bruder und mich waren die Bomben ein Zeichen. Wenige Tage später befreiten amerikanische Truppen die Stadt.
Wir überlebten die Schoa, weil uns Menschen in dem Arbeiterviertel am Güterbahnhof halfen. Ohne sie wäre ein Überleben unter den Umständen der Nazidiktatur für uns nicht möglich gewesen. Nicht alle in Halle waren Nazis. Das ist einer der Gründe, warum ich nach so viel Leid hier in der Stadt bleiben konnte.

Ende dieser Woche, am 9. November, wird es in Halle wieder eine Gedenkveranstaltung am Großen Berlin, dem Ort der in der Pogromnacht zerstörten Synagoge, geben. Wie in jedem Jahr will ich auch diesmal hingehen. Denn ich bin der einzige noch lebende jüdische Hallenser, der diese Nacht damals miterlebt hat. Ja, ich bin der letzte Mohikaner.

Aufgezeichnet von Tobias Kühn

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