Porträt der Woche

»Ich bin angekommen«

Akiva Weingarten kommt aus einer chassidischen Familie und ist jetzt liberaler Rabbiner

von Jérôme Lombard  28.09.2019 23:19 Uhr

»Mit meiner Biografie gehe ich selbstbewusst um«: Akiva Weingarten (35) Foto: Stephan Pramme

Akiva Weingarten kommt aus einer chassidischen Familie und ist jetzt liberaler Rabbiner

von Jérôme Lombard  28.09.2019 23:19 Uhr

Dass ich nach Berlin kam, hat mit den günstigen Flugtickets von easyJet zu tun. Als ich 2014 den Entschluss fasste, Israel zu verlassen, habe ich nach den besten Preisen für einen Flug nach Deutschland gesucht. Berlin-Schönefeld sprang mir als Destination geradezu ins Auge. Kurz entschlossen und mit wenig Geld in der Tasche kam ich also vor fünf Jahren nach Deutschland.

Mikrokosmos Es ging mir damals mehr darum, etwas Altes hinter mir zu lassen, als etwas Neues zu beginnen. Außerdem wollte ich eine akademische Ausbildung anfangen. Seither hat sich eine Menge verändert. Ich habe Berlin lieben gelernt. Die Stadt ist so lebendig multikulturell und wie ein Mikrokosmos für jüdisches Leben. Egal, wie du dein Judentum definierst, du wirst auf jeden Fall eine Gemeinde oder zumindest Gleichgesinnte finden. Diese Offenheit und Vielfalt habe ich in New York immer vermisst.

Ich wurde 1984 in der kleinen Ortschaft Monsey im Staat New York in eine ultraorthodoxe chassidische Familie geboren. Ich bin der Älteste von elf Geschwistern. Ich würde sagen, dass meine Familie die typischste chassidisch-aschkenasische Familie ist, die man sich überhaupt vorstellen kann. Mein Vater und mein Großvater sind beide Dayanim, religiöse Richter.

Obwohl ich Amerikaner bin, musste ich Englisch erst mühsam lernen.

Meine Mutter ist Lehrerin an ultraorthodoxen Schulen. Meine Muttersprache ist Jiddisch. Englisch musste ich als amerikanischer Staatsbürger erst mühsam außerhalb der Schule lernen. Meine Brüder, Schwager und generell all meine männlichen Verwandten aus unserer weit verzweigten Familie besuchen Jeschiwot in den USA oder Israel. Ich selbst führte bis zu meinem 28. Lebensjahr ein von religiösen Ge- und Verboten bestimmtes Leben in einer stark von der Außenwelt abgekapselten Community.

Jeschiwa Zunächst besuchte ich eine chassidische Jeschiwa in Monsey und später eine in Williamsburg, einem ultraorthodox geprägten Stadtviertel von New York, um dort jeden Tag Tora und Talmud zu studieren. Mit 17 habe ich meine erste Smicha erhalten, acht Jahre später wurde ich von einem litwischen Beit Din in Bnei Brak in Israel zum Rabbiner ordiniert. Nach Israel war ich ursprünglich mit dem Ziel der Ordination gegangen, aber auch, um ein Mädchen aus Bnei Brak zu heiraten. Mit 19 Jahren waren wir verlobt, und mit 22 hatte ich bereits zwei Kinder mit ihr. Später ist noch ein drittes hinzugekommen.

Die meiste Zeit meines Lebens führte ich das ganz gewöhnliche Leben eines ultraorthodoxen Mannes. Der Ausbruch aus der Community, den ich vor fünf Jahren mit meinem Umzug nach Berlin gewagt habe, war das Resultat eines Prozesses, der viele Jahre gedauert hat. Es gibt nicht den einen Moment, der mich zu meinem Entschluss, ein anderes Leben nach meinen eigenen Idealen zu führen, gebracht hat. Das Hauptproblem der ultraorthodoxen Gemeinden ist aus meiner Sicht, dass sie ihren Anhängern wichtige Fakten über das Leben vorenthalten.

Der Ausbruch aus der Community war das Resultat eines Prozesses, der viele Jahre gedauert hat.

Dieses Prinzip hat mir schon als Jugendlicher nicht gefallen, ich habe immer die Aussagen meiner Rabbiner hinterfragt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einmal aus meiner Jeschiwa-Klasse rausgeschmissen wurde. Als mich mein Vater abholen kam und den Maschgiach fragte, ob sein Sohn ein so schlechter Schüler sei, antwortete dieser: »Nein, es gibt wesentlich schlechtere Schüler als ihn, aber Akiva ist ein ›Manhig‹, ein Provokateur, und so einen kann ich hier nicht gebrauchen.«

Mit anderen Worten: Ich war schon immer ein kritischer Geist, der auch unbequeme Fragen stellte. Das ultraorthodoxe System kann damit nicht umgehen. Die Rabbiner, die in diesen Jeschiwot lehren, haben selbst niemals gelernt, kritisch zu sein, kreativ an die Themen heranzugehen.

Ganz abgesehen davon, dass profane Fächer sowieso kaum eine Rolle in diesen Lehreinrichtungen spielen. Was sollen sie also mit Schülern anfangen, die sich mehr für Chemie, Physik, Geschichte oder Sprachen als für das religiöse Studium interessieren und Fragen dazu haben? Der Rauswurf aus der Klasse ist aus dieser Sicht der Dinge dann das einzig mögliche Mittel. Das ist wirklich sehr schade, aber so ist meine Erfahrung.

BRUCH Mein Bruch mit dem strikten ultraorthodoxen Leben war für meine Familie ein gewaltiger Schock. Manche haben den Kontakt abgebrochen. Meine Ex-Frau in Israel versteht bis heute nicht, warum ich das getan habe.

Ich habe immer und immer wieder versucht, ihr meine Beweggründe zu erklären, aber sie kann es einfach nicht nachvollziehen. Aber das ist in Ordnung. Ich habe keine negativen Gefühle ihr gegenüber. Liebe war in unserer Ehe sowieso kein Thema. In den zehn Jahren unserer Verbindung ging es einfach nur darum, sich bestmöglich zu arrangieren.

Zum Glück habe ich zu meinen drei Kindern weiterhin einen sehr guten Kontakt. Wir telefonieren häufig, und ich fahre regelmäßig nach Israel, um sie zu besuchen. Manchmal treffen wir uns auch an einem anderen Ort, zum Beispiel auf Zypern. Meine Ex-Frau ist bei diesen Treffen nicht dabei. Wenn meine Kinder etwas älter sind, möchte ich ihnen klarmachen, dass sie eine Wahl haben und dass die Gemeinschaft, in der sie jetzt leben, nicht die einzige Option für ihre Lebensgestaltung ist.

Im Fall meiner Eltern war die Liebe zu mir als ihrem Sohn einfach stärker als Glaube und Tradition.

Auch mit meinen Eltern habe ich regelmäßig Kontakt und inzwischen auch wieder eine gute Beziehung. Sie haben mich nicht verstoßen, sie wollten mich nicht aus ihrem Leben verbannen. Meine Mutter hat in ihrer Gemeinde in New York sogar einen Arbeitskreis ins Leben gerufen, der für Verständnis für »Off the Derech«-Personen, sogenannte »OTDs«, wirbt.

Gefühl Als OTDs werden in der ultraorthodoxen Community in den USA Menschen wie ich bezeichnet, die den angeblich rechten Weg des Lebens, also die Gemeinschaft, verlassen haben. Ich glaube, im Fall meiner Eltern war die Liebe zu mir als ihrem Sohn einfach stärker als Glaube und Tradition. Das ist ein sehr schönes Gefühl.

Als ich nach Berlin kam, wollte ich nichts mit dem Judentum zu tun haben. Ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben machen wollte. Mit der Zeit stellte ich fest, dass mir die jüdische Tradition und Religion eigentlich gut gefallen, wenn man sie aus dem ultraorthodoxen Korsett befreit.

Aussteiger aus den ultraorthodoxen Gemeindestrukturen wissen oft nicht einmal, wie man eine Wohnung mietet oder einen Handyvertrag abschließt.

Ich habe mich dann dafür entschieden, an der Universität Potsdam Jüdische Theologie zu studieren. Ich merkte, dass ich trotz meiner Jugend über ein breites religiöses Wissen verfüge – das ich gerne mit anderen Menschen teilen möchte.

Außerdem will ich hier eine Hilfsorganisation für OTDs in Berlin etablieren. Menschen, die aus den ultraorthodoxen Gemeindestrukturen ausgestiegen sind, brauchen praktische Unterstützung. Sie wissen oft nicht einmal, wie man eine Wohnung mietet oder einen Handyvertrag abschließt.

DRESDEN Seit August bin ich Rabbiner in der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und für Migwan, die liberale Jüdische Gemeinde Basel. Beide Ernennungen freuen mich sehr. Ich möchte mehr Angebote für Jugendliche in den Gemeinden schaffen und Brücken bauen. Mit meiner Biografie gehe ich selbstbewusst um und beantworte gerne alle Fragen. Ich habe das Gefühl, dass ich mit den Anstellungen in Dresden und Basel jetzt richtig angekommen bin.

Aufgezeichnet von Jérôme Lombard

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