Dresden

Herzen, Kerzen, Schmerzen

Sie sind Orpah», sagt Iris Weiss –und wechselt ins Du, «du weinst und du küsst deine Schwiegermutter. Was sagen deine Tränen?» Dramatisch geht es zu in den Gefilden Moabs. In einem Saal der Jüdischen Gemeinde zu Dresden liest die Berliner Pädagogin Iris Weiss Zeilen aus dem 1. Kapitel des Buches Rut vor und fordert dazu auf, sie nachzuempfinden. Es ist die Geschichte von Noomi aus Bet Lechem, die zuerst ihren Mann, dann auch noch ihre beiden Söhne verliert.

Sie bleibt allein mit den Schwiegertöchtern, die auch noch Moabiterinnen sind. Noomi fordert die Frauen auf, wegzugehen und sich neue Männer zu suchen. Aber Orpah und Rut wollen bleiben, sie weinen und küssen ihre Schwiegermutter. Die rund 50 Menschen im Publikum – alte und junge, versetzen sich in die Gefühle Orpahs und Ruts. Iris Weiss läuft durch die Reihen, hört sich die geflüsterten Gedanken der Zuhörer an – und spricht sie unkommentiert ins Mikrofon. «Meine Tränen sind Tränen, die der Schwiegermutter recht geben», sagt sie.

Therapie Das Ganze ist ein Bibliolog zu Rut 1. Es ist eine besondere Form der Schriftlesung, die die alten Texte lebendiger machen soll, ja manchmal auch therapeutische Funktion hat. Iris Weiss bietet an der Elbe auf dem 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag einen «jüdisch-christlichen Bibliolog» an. Das große Christentreffen, das am Sonntag nach fünf Tagen des Betens, Singens und Diskutierens zu Ende gegangen ist, hatte jüdische Themen zuhauf.

Auf dem Kirchentag, der unter dem Motto «... da wird auch dein Herz sein» steht, eine Stelle aus dem Matthäus-Evangelium zitierend, gibt es ein eigenes «Zentrum Juden und Christen», womit die Kirchentagsregie die Bedeutung dieser Themen hervorheben wollte.

Je nach Zählweise hatten rund 70 Programmpunkte direkt etwas mit dem Judentum zu tun, was selbst in einem Wust von 2.200 Veranstaltungen insgesamt noch ziemlich beachtlich war. Zum Vergleich: Wenn man in der Programmdatenbank unter dem Stichwort Muslime suchte, ergaben sich gerade einmal 23 Treffer.

Das Judentum ist schon seit Jahren sehr gern gesehen auf Evangelischen Kirchentagen – und in Dresden ist das nicht anders. Natürlich mag darin auch, etwas versteckt, ein Funken besonders großer Freundlichkeit und Interesse ob der Untaten der Väter und Großväter am jüdischen Volk in Europa zu finden sein. Aber eigentlich ist die große Sympathie für Jüdisches ja durchaus etwas Positives.

Dass das früher mal ganz anders war, zeigt etwa die «Gala 50 Jahre christlich-jüdischer Dialog» im Festsaal des Kulturpalastes am Altmarkt, also mitten im Zentrum der sächsischen Landeshauptstadt. Titel der Veranstaltung im mit rund 800 Leuten restlos gefüllten Saal: «Eine Herzensangelegenheit». Fast alles, was Rang und Namen im protestantischen Deutschland hat, ist eingeladen, etwa der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, einerseits, aber auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann.

Harmonie Graumann sagt, im Moment sei, anders als in der Beziehung etwa zur katholischen Kirche, im Verhältnis zu der evangelischen Kirche «alles gut» – Ironie ist in dieser Aussage höchstens in Spurenelementen zu finden. Ihm falle es derzeit schwer, irgendwelche Probleme zu erkennen. «Mit den Christen sind wir sehr weit gekommen», sagt Graumann, gerade im Vergleich mit den Muslimen. Wäre nicht der jüdische Kabarettist Oliver Polak, aufgewachsen in Papenburg, aufgetreten, die an diesem Donnerstagabend herrschende Harmonie wäre schon beinahe des Guten zu viel gewesen.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem «trialogischen Konzert» im Internationalen Congress Center direkt an der Elbe: «Du meine Seele singe» lautet das Motto. Die jüdische Kantorin Avitall Gerstetter aus Berlin tritt auf, die muslimische Folksängerin Hülya Kandemir aus München und ein Star der evangelisch geprägten Pop- und Jazzszene: Sarah Kaiser.

Die drei Musikerinnen bieten religiöse und weltliche Lieder – und als am Ende sogar alle drei zusammen Avitalls Lied «... da wird auch dein Herz sein» singen, eigens für den Kirchentag komponiert, ist aus dem christlich-jüdischen Dialog tatsächlich unter Integration der Lobeshymnen an Allah ein kleiner musikalischer Trialog geworden – wie weit der auch immer tragen mag.

Nahostkonflikt Dennoch ist natürlich nicht alles eitel Sonnenschein, was zum Thema jüdisches Volk oder biblisch-christlich gesprochen wird: Am deutlichsten wird das, als es um Israel geht. Bei der Veranstaltung «Das wird man wohl noch sagen dürfen! Israel und wir» kochen die Emotionen hoch.

Obwohl der Moderator Christian Staffa, Geschäftsführer der «Aktion Sühnezeichen Friedensdienste» in Berlin, zu Beginn der Veranstaltung betonte: «Wir wollen nicht den Nahostkonflikt diskutieren», melden sich dann doch mehrere Christinnen und Christen im Publikum, um genau dies zu tun. In der Regel werden dabei palästinensische Positionen vertreten, meist mit der Randbemerkung, dass man ja schon mal in Israel oder Palästina gewesen sei.

Tiefer aber geht diese Diskussion nicht, sei es aus mehrheitlichem Verständnis für Israel, sei es aus Feigheit vor der offenen Diskussion, was nicht unüblich ist auf den traditionell sehr höflichen Kirchentagen.

Nur ein Flugblatt wollte Stimmung machen. «Kirchentag vergisst Palästina» lautet es: «Ein Skandal: Der Kirchentag in Dresden verweigert sich dem Notschrei der Christen aus Palästina.» Tatsächlich ist das sogenannte Kairos-Dokument palästinenscher Theologen, in dem 2009 unter anderem der Boykott israelischer Waren gefordert wurde, so gut wie kein Thema. Das kann man als Ausdruck der Weisheit des christlichen Volkes an der Elbe werten – oder als einen segensreichen Schachzug des Herrn.

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