Düsseldorf

Herrin der Köpfe

Perückenspezialistin Corinna Reich: Zu ihrer Ausbildung gehört auch der Abschluss zur Visagistin und zur Farb- und Stilberaterin. Foto: Alexandra Roth

Sie fühlen sich unendlich weich an und fließen perlend seidig durch die Finger. Zieht man die Hand heraus, fallen die Haare gleich wieder in ihre Form zurück. »So fühlt sich echtes Haar an, wenn es gesund und gut gepflegt ist«, sagt Corinna Reich. »Halten Sie die Perücke mal hoch!« Leicht wie eine Feder liegt sie in der Hand: eine Vollperücke mit schulterlangen Haaren.

Corinna Reich drapiert die Haarpracht behutsam auf den Styroporkopf zurück. Neben ihm stehen noch weitere frisierte Köpfe in Reih und Glied, auch auf einem Board darüber und an der gegenüberliegenden Wand: Regale voller Perücken. Manche mit langen Haaren, die prestigeträchtig herunterfallen wie bei Rapunzel. Gegenüber stehen Bob, Kurzhaar oder Locken. Sie glänzen im weißen Licht des Raums: mehrfarbig blond gesträhnt, kupferrot, dunkel oder weiß. Die Köpfe sind zur Raummitte gedreht, manche seitlich zueinander, als wollten sie sagen: Ich bin schöner als du!

Kunsthaar oder Echthaar: Corinna Reich ist in ihrem Element.Foto: Alexandra Roth

Schmuck Die Herrin der Köpfe ist eine zierliche, in Schwarz gekleidete Frau. Um eine Perücke aus den oberen Reihen zu holen, muss Corinna Reich einen Stuhl zu Hilfe nehmen. Sie setzt sich eine Perücke mit braunem, glattem, kinnlangem Haar auf. Was für ein Unterschied! Aus der Blondine mit Pferdeschwanz ist eine Brünette geworden. Sie lächelt. »Sehen Sie, der Schmuck der Frau ist das Haar.«

Sie beginnt, mit ihrem Kopf hin und her zu wedeln, beugt sich nach vorne und schnellt mit dem Oberkörper wieder zurück. Die Haare fliegen durch die Luft. »Diese Perücken verrutschen nicht«, sagt Corinna Reich noch in der Bewegung. »Sie sehen auch die Ansätze heute nicht mehr.« Ein kritischer Blick bestätigt ihre Aussage. Erst nach festem Fokussieren erkennt man eine hauchdünne beigefarbene Linie, dort, wo der Ansatz auf der Stirn aufliegt.

Zu den Perücken ist sie gekommen, als die Mutter ihrer Freundin Krebs hatte. Sie kam zu ihr als Friseurmeisterin, und Corinna Reich half mit einer Perücke. »Da habe ich gemerkt, dass mir das liegt. Ich kann mich in die Frauen hineinfühlen und ihnen mit meinem Fachwissen helfen.« Seit 19 Jahren arbeitet sie mit Krebspatienten. »Mit den Jahren bin ich noch sensibler geworden.« Corinna Reich zupft eine Perücke wieder in Form. »Die Frauen vermissen ihr Haar und hoffen, dass es wiederkommt. Sie frieren auch am Kopf. Ich kann ihnen Tipps geben für Tücher und Hüte sowie die richtige Perücke für sie finden.«

Ihr Perückensalon befindet sich im Medical Center Düsseldorf. Das achtstöckige Gebäude beherbergt ein Krankenhaus und viele einzelne Arztpraxen. Im fünften Stock dreht sich alles ums Haar. Hier residiert auch eine dänische Firma, die das Wort Haarklinik im Namen trägt, was auf Dänisch irgendwie besser klingt. Die Frau am Eingangstresen erklärte freundlich: »Wir kümmern uns um Haarausfall und Kopfhautprobleme.« Geht man am Tresen vorbei, führt rechts die Tür zu Corinna Reichs Reich.

Anzeige Als ihr eine Ärztin fern jeder medizinischen Indikation zufällig erzählte, dass orthodoxe Jüdinnen Perücken tragen, hat sie nicht lange nachgedacht und eine Anzeige in der Gemeindezeitung geschaltet. »Die jüdische Frau möchte sich schön fühlen, genau wie die Krebspatientin oder die modisch Interessierte.« Die Frauen, die zu ihr kommen, wollen das Gleiche: sich wohlfühlen, sich sicher fühlen. »Ich stehe im Dienst der Schönheit der Frauen«, sagt Corinna Reich.

»Als Lehrling habe
ich noch Tressen geknüpft«,
sagt Corinna Reich.

Ursprünglich kommt sie aus Thüringen und hat dort auch noch ihren Friseursalon mit Angestellten. »Ich bin die sechste Generation im Friseurbetrieb«, sagt sie stolz. Sie habe viel von ihrer Großmutter gelernt. Die hatte noch Fotoalben mit Hochzeitsfrisuren angelegt. »Eine Kundin ist dort zweimal abgebildet. Sie hat den Mann gewechselt, aber nicht die Friseurin.« Reich schmunzelt wissend. Das ist ihr wichtig: Qualität. Sie habe ein Handwerk gelernt. »Als Lehrling habe ich noch Tressen geknüpft«, erzählt sie.

Tressen? »Eine Tresse ist ein Haarteil.« Reich angelt sich ein dünnes Band, etwa 30 Zentimeter lang, von ihrem Tisch. Hier hängen einzelne Haarsträhnen wie bei einem Wollmuster. »Jedes Haar wird einzeln an dieses Band geknüpft.« Einzeln? Ja, mit einer Art Stricknadel, einer sogenannten Knüpfnadel. »Das können Sie in Deutschland nicht bezahlen.«

Preise Die Preise variieren selbstverständlich mit der Länge, der Anzahl der Haare oder der Verarbeitung. Gefertigt wird in Asien oder in der Ukraine. Eine hochwertige Kunsthaarperücke kostet ab 350 Euro, der Preis ist nach oben offen. Für eine Echthaarperücke werden Preise von 650 Euro und sehr viel mehr aufgerufen. Für eine längere Echthaarperücke muss man schon 1200 Euro zahlen. Die Kunsthaare der höchsten Qualität, die Soft-Fibers, sind genauso teuer wie Echthaarperücken.

»Ich bin kein Fan mehr von Echthaarperücken. Keine Frau und kein Ehemann sieht oder fühlt heute noch, ob das Kunsthaar oder Echthaar ist«, versichert Reich. Vor Kurzem war eine Jüdin mit ihrem Mann bei ihr zum Ponyschneiden. »Sie hatte eine Perücke aus Mischfasern«, erzählt Corinna Reich. 50 Prozent Echthaar, 50 Prozent Kunsthaar. »Das habe ich sofort gesehen.« Die Kundin wollte es nicht glauben, sie hätte dafür stolze 1500 Euro bezahlt. »Sie wollte ihre Perücke in Zahlung geben und dann bei mir eine neue kaufen«, berichtet Reich. Das sei nicht möglich. »Perücken sind Hygieneartikel. Die sind vom Umtausch ausgeschlossen.«

Zu ihrer Dienstleitung gehört ein ausführliches Beratungsgespräch am Anfang. Nachdem sie die Stirnkonturen und Kopfmaße notiert hat, trifft sie eine Vorauswahl. Sie bestellt dann mehrere Modelle, von denen das beste genommen wird. Der Rest geht wieder zurück. In einer Ecke im Raum stapeln sich Kisten wie in einem Schuhladen. Auf einem Stapel aus fünf Kartons klebt ein kleiner Zettel. »Das ist die Ware, die ich für eine Kundin bestellt habe«, sagt Corinna Reich. Eine Beratung kostet bei ihr pro Stunde 60 Euro. Sollte die Kundin tatsächlich eine Perücke bestellen, wird der Betrag verrechnet.

Nachbearbeitung Als Friseurmeisterin kann sie Perücken im Neuzustand und auch später noch nachbearbeiten, etwa kürzen oder stufig schneiden. Kunsthaar lässt sich aber nicht nachfärben oder nachträglich wellen. Das geht nur bei Echthaar. Da sie aber die Knüpftechnik gelernt hat, könne sie einzelne Strähnen nachträglich in jede Perücke einarbeiten, sagt Reich. Sie zeigt eine Auswahl von farbigen Strähnen an einem Metallring. Sie zieht eine pinkfarbene heraus und legt sie zur Demons­tration auf eine blonde Perücke. »Ich kann auch farbige Strähnen einarbeiten.«

Eine Frau hat ihre
Perücke getoastet
und dann mit einem
Glätteisen behandelt.

Eine neue Perücke hält ein bis zwei Jahre, je nach Pflege auch länger. Das gilt für Kunsthaar wie für Echthaar. »Es hängt davon ab, wie oft und wie man sie trägt«, sagt Reich. Kocht man damit, schwitzt man darin? Eine neue Perücke sollte man alle 14 Tage waschen. »Wenn Sie eine Echthaarperücke waschen, oder wenn sie nass wird, muss man sie wieder frisieren. Das ist so, wie wenn Sie aus der Dusche kommen.« Beim Kunsthaar fallen die Haare im trockenen Zustand wieder in ihre Form.

Corinna Reich arbeitet ausschließlich mit deutschen Lieferanten mit Qualitätskontrolle, betont sie mehrfach. Bei Qualitätsmängeln kann sie Ware auch zurückschicken. »Aber sie hören manchmal die abenteuerlichsten Erklärungen«, verrät die Fachfrau. »Manche Kunden haben die Perücke getoastet und dann mit einem Glätteisen behandelt.« Bei dem Gedanken zuckt Corinna Reich regelrecht zusammen. Das ist dann kein Garantiefall. »Als Laie können Sie viele Fehler machen.«

Zu ihrer Ausbildung gehört auch der Abschluss zur Visagistin und zur Farb- und Stilberaterin. »Ich berate immer ganz individuell und typgerecht«, verspricht Corinna Reich. Sie schaut ihre Kundin prüfend an: »Sommertyp«, sagt sie ungefragt. »Die Haare sind in den Spitzen zu rötlich. Sie sollten kälteres Blond nehmen.« Reich lächelt. Auf ihrer Visitenkarte steht Friseurmeisterin und Perückenspezialistin. Passender wäre Perfektionistin. Perückenperfektionistin.

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