Gelsenkirchen

Heimisch geworden

Es ist ruhig auf den kleinen Plätzen und Straßen in der Gelsenkirchener Stadtmitte an diesem eisigen Sonntag. Doch wer durch die Fenster des Jüdischen Gemeindezentrums schaut, erkennt schon am Morgen Bewegung. »Hier ist immer Leben«, sagt die Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach. Vor genau fünf Jahren konnten die Gelsenkirchener Juden ihre neue Synagoge eröffnen und wurden damit schlagartig attraktiver für Mitglieder und Besucher.

»Ich muss zugeben, dass wir am Anfang vielleicht ein bisschen blauäugig waren«, gesteht Neuwald-Tasbach. »Wir hatten unsere Kistchen gepackt, hier herübergetragen und standen plötzlich in diesem Haus, das uns so viele Möglichkeiten bietet.« Bis 2007 war ein kleines Gebäude an der Von-der-Recke-Straße die Heimat der Gemeinde gewesen. Gemütlich sei es dort gewesen, doch das umschreibt nur positiv, dass es schlicht viel zu klein war.

Besucher kamen selten, schließlich wusste kaum ein Gelsenkirchener außerhalb der Gemeinde, wo sich diese befand. »Das war damals auch so gewünscht«, erzählt die Gemeindevorsitzende. »Hinter dicken Mauern lebte man dort relativ zurückgezogen. Die Menschen, die nach dem Holocaust zurückgekehrt waren, wollten einfach nur wieder ihr jüdisches Leben leben. Sie hatten keinen Sinn für Öffentlichkeitsarbeit.«

öffnung Die fünf Minuten Fußweg vom alten Gebäude zur Georgstraße sind auch ein Schritt in eine andere Welt. Früher reichte es, wenn die Gemeinde an zwei halben Tagen geöffnet hatte, heute sind es vier pro Woche. Dazu kommen die Gottesdienste, Veranstaltungen, das Programm an den Wochenenden.

Und die rund 410 Mitglieder nehmen die Angebote in großer Zahl an. »Sie kommen jetzt lieber in die Gemeinde, seit wir dieses schöne Haus haben«, sagt Neuwald-Tasbach. Das könne man auch an Gottesdienstbesuchern ablesen. »An Festen wie Purim und Chanukka nimmt sicher die Hälfte unserer Mitglieder teil.« Etwa 100 kämen dann auch zu den Gottesdiensten. Eine gute Quote.

»Die Synagoge ist aber nicht nur ein Haus des Gebets, sondern auch eins der Versammlung und des Lernens«, betont die 52-Jährige. Auch wenn die Religion die Basis für das Zusammenleben bilde, wolle man die Mitglieder in allen anderen Bereichen des Lebens begleiten. »Dafür musste das neue Haus nicht nur von den Menschen außerhalb der Gemeinde, sondern auch von unseren Mitgliedern akzeptiert werden.«

Freiwillige Helfer haben mit viel Engagement auch die Angebotspalette erweitert. »Ohne dieses neue Haus hätten wir die Ideen gar nicht umsetzen können«, weiß Neuwald-Tasbach. Während eine Kindergruppe im großen Saal tanzt, probt eine weitere in den Räumen des Jugendzentrums. Wenn manchmal bis zu 40 Kinder im Gemeindezentrum tollen, können die Eltern zusammensitzen und in großer Runde mit dem Rabbiner sprechen.

fürsorge Gleich hinter der Eingangstür hängt im Foyer ein Schwarzes Brett mit Hunderten von Zetteln mit Veranstaltungshinweisen. Doch für viele Menschen ist es nicht nur das offizielle Programm zwischen Rechtsberatung und Chorprobe, das sie in die Georgstraße lockt. »Hier ist immer jemand, mit dem man reden kann.

Deshalb kommen vor allem Ältere gerne vorbei. Sie vertrauen uns, wenn sie Sorgen haben – von der Telefonrechnung bis zum Mietvertrag. Aber es ist noch mehr«, sagt Judith Neuwald-Tasbach. »Hier ist ein Haus entstanden, in dem wir wie in einer Familie leben können. Die Menschen fühlen sich einfach wohl.«

»Es muss nebensächlich sein, ob jemand aus Litauen, Georgien oder Deutschland kommt. Es gibt hier keine besseren oder schlechteren Juden«, lautet das Rezept des guten Miteinanders. Die Antisemitismusstudie hätte jüngst gezeigt, dass die jüdische Gemeinschaft noch enger zusammenrücken müsse.

Man habe mit dem neuen Haus in den vergangenen fünf Jahren auch die Möglichkeit gehabt, sich gegenüber Nichtjuden zu öffnen und das Judentum zu einem Teil des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt zu machen. »Wenn unsere Besucher vom Bahnhof kommen und jemanden auf der Straße oder in einem Dönerladen fragen, wo die Synagoge ist – weiß es jeder«, erzählt Judith Neuwald-Tasbach. Und über das Haus habe man den Menschen das Judentum näherbringen können.

Finanzen Die Gemeinde hat aber auch Sorgen. Die Drittelfinanzierung des Neubaus durch Stadt, Land und Gemeinde bindet noch viele Mittel. Dazu kommen die Kosten für die Sicherheitsvorkehrungen. »Dieses Geld bräuchten wir eigentlich, um für unsere Mitglieder da zu sein«, erzählt die Gemeindevorsitzende und räumt ein: »Wir sind finanziell nicht gut ausgestattet.« Deshalb wird derzeit über Einsparungen diskutiert.

»Doch wenn wir zum Beispiel den Nachwuchs betreuen, ist dies eine wichtige Investition in eine jüdische Zukunft. Die Chance, dass viele Kinder hierbleiben, ist allerdings gering. Und deshalb wissen wir auch nicht, wie es um die Zukunft unserer Gemeinde bestellt ist.« Doch noch sieht man hinter den Fenstern jüdisches Leben, und das wird nicht so schnell verschwinden.

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