Interview

»Feindschaft ist eine Nahbeziehung«

Herr Becke, im Herbst startet ein neues Graduiertenkolleg, das von der Universität Heidelberg und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) ins Leben gerufen wurde. Es trägt den Titel »Ambivalente Feindschaft« und wird sich der Erforschung von Feindschaften widmen. Erläutern Sie bitte, worum es dabei geht.
Das Graduiertenkolleg, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird, bringt nicht nur zwei Universitäten zusammen, sondern sehr viele Disziplinen, mit dem Ziel, Doktorandinnen und Doktoranden auszubilden. Die Sprecherin unseres Graduiertenkollegs, Tanja Penter, ist beispielsweise Expertin für osteuropäische Geschichte; andere Schwerpunkte reichen von der Psychologie bis zur chinesischen Geistesgeschichte. Wir schreiben zwei Stellen aus für Postdoktoranden und zwölf für Doktoranden, die sich dann in den verschiedenen Disziplinen und mit dem jeweiligen regionalen Schwerpunkt damit auseinandersetzen sollen, dass das Thema von Feindschaft häufig nicht so binär aussieht, wie es beispielsweise der Staatsrechtler und Philosoph Carl Schmitt postuliert hat. Im Fokus stehen dabei die Regionen Europa, Asien und der Nahe Osten, natürlich auch mit dem Schwerpunkt Israel.

Was soll in dieser Hinsicht an Ihrem Kolleg mitgedacht werden?
Dass Feindschaft immer auch eine Nahbeziehung ist und man sich mit dem Feind sehr, sehr eng auseinandersetzt, indem man ihn studiert, mit ihm in Kontakt tritt, ihn abbildet oder repräsentiert. Und da hoffen wir, dass wir die unterschiedlichen Disziplinen miteinander ins Gespräch bringen. Die Israel- und Nahoststudien mit der Islamwissenschaft zum Beispiel. Das Ziel ist auch, dass durch die Doktorandinnen und Doktoranden spannende Fallstudien entstehen zu der Frage, warum Feindschaft eben nicht nur Abstoßung und Hass bedeutet, sondern häufig auch eine implizite Anziehung, in der man den Feind manchmal auch attraktiv findet oder als Vorbild nutzt.

Wie zeigt sich diese Ambivalenz im israelisch-palästinensischen Konflikt?
In der Fernsehserie »Fauda« wird es sehr deutlich. Hier wird eine Geschichte des israelischen Militärs, der Agentinnen und Agenten erzählt, die undercover in der arabischen Welt oder im Iran unterwegs sind, die entweder Arabisch oder Persisch schon von zu Hause mitbringen. Sie sind dann in Nablus unterwegs – natürlich mit einem militärischen Auftrag – und kommen dort in sehr, sehr engen Kontakt mit der palästinensischen Gesellschaft. Zu sehen ist dann, dass der andere nicht nur ein Feind ist, den man politisch-militärisch bekämpfen muss, sondern auch jemand, mit dem man sich so lange beschäftigt hat, dass man irgendwann auch dessen Stärken sieht oder dessen Argumente anfängt zu verstehen. Anderes Beispiel: Wenn man die palästinensische Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1988 neben die israelische aus dem Jahr 1948 legt, sieht man sofort, dass Mahmud Darwisch, der die palästinensische Unabhängigkeitserklärung verfasst hat, natürlich vorher die israelische Variante gelesen haben muss.

Können Sie noch ein Beispiel nennen, mit dem deutlich wird, dass Beziehungen zwischen »Feinden« doch enger sein könnten als erwartet?
In Israel gibt es Nahostexperten, die seit Jahren Bücher über den Libanon oder über Syrien schreiben, aber noch nie dort waren. Und auch auf der anderen Seite, an ägyptischen Universitäten unter anderem, gibt es große Abteilungen für hebräische Literatur, aber eigentlich beschäftigt man sich mit der modernen israelischen Gesellschaft, ohne dort hingehen zu können. Das sind interessante Formen der Wissensproduktion über die andere Seite. Mein Eindruck ist, dass, selbst wenn es aus einer Konflikt- und Feindschaftsperspektive kommt, eine solche Auseinandersetzung häufig auch mit einer gewissen Ambivalenz einhergeht. Wenn man sich als Israeli lange mit dem Libanon beschäftigt, kommt man nicht umhin festzustellen: Es gibt wunderbares Essen im Libanon. Beirut ist wunderschön, die Musik ist fantastisch. Da gibt es so etwas wie eine heimliche Bewunderung.

Der Duden schreibt, Feindschaft sei eine Haltung einem anderen Menschen gegenüber, die von dem Wunsch bestimmt ist, diesem zu schaden, ihn zu bekämpfen oder sogar zu vernichten. Ich nehme an, Sie widersprechen dieser Definition?
Der Duden lehnt sich hier sehr eng an Carl Schmitt an. Für ihn ist Feindschaft immer die Bereitschaft, zu töten und getötet zu werden. Das ist ein sehr klassischer Blick auf das Thema. Es gibt allerdings eine breite Literatur dazu, beispielsweise die Texte von Zygmunt Bauman, in denen es ganz stark um Ambivalenzen geht, und dann kann man feststellen, dass selbst Autoren, die mit solchen sehr binären, sehr absoluten Feindschaftsideen arbeiten, doch intensiv über die andere Seite nachdenken. Selbst in sehr asymmetrischen Machtbeziehungen, beispielsweise in den kolonialen Machtbeziehungen, ist klar, wer mehr und wer weniger Macht hat. Man könnte sagen, das ist eine ganz klare Feindbeziehung. Aber das stimmt ja nicht. In vielen postkolonialen Gesellschaften gibt es weiterhin eine ganz enge Beziehung zu der Kolonialmacht, die jetzt weg ist. Und zu der Sprache, die einem vom Kolonialherrn geblieben ist.

Warum wird sich das Kolleg ausgerechnet diesem Feld widmen?
Unser Eindruck war, dass in der Literatur diese Idee, dass Feind und Vorbild eng zusammenfallen können, häufig aufblitzt, aber es noch nicht systematisch genug verglichen worden ist. Ich glaube, da könnte das Kolleg einen entscheidenden Beitrag leisten. Das heißt aber nicht sofort, dass wir eine ganz neue Feindschaftstheorie entwickeln wollen.

Denken Sie, dass Ihr Projekt neue Richtungen in der politischen Praxis anstoßen wird? Bei Friedensgesprächen zum Beispiel?
Es ist immer riskant zu behaupten, dass wir der Politik am Ende des Tages hilfreiche Hinweise geben wollen. Das ist nicht das Ziel. Es könnte aber ein Nebeneffekt sein. Es gibt allerdings die Idee, dass wir uns Leute aus der Praxis holen, jemanden aus dem Auswärtigen Amt oder vom BND, die manchmal eben genau diese Aufgabe haben, einen politischen Feind zu beschreiben oder zu bekämpfen. Es ist auf jeden Fall vorgesehen, mit diesen Experten darüber zu sprechen, was Feindschaft für ihre Berufspraxis bedeutet.

Was bietet der Wissenschaftsstandort Heidelberg für ein solches Graduiertenkolleg?
Heidelberg erweist sich tatsächlich als einzigartig, da unsere Hochschule die Jüdischen Studien in einer Breite vertritt, die man selbst in Berlin nicht in dieser Form finden würde. Darüber hinaus ist Heidelberg auch der einzige Ort mit einem eigenen Lehrstuhl für Israel-Studien. Die Universität Heidelberg deckt zudem viele interessante Regionen ab, darunter Ostasien, Südasien, Osteuropa und den Nahen Osten. Zusätzlich pflegt sie eine bemerkenswerte Tradition in den Geisteswissenschaften, die in der wissenschaftlichen Ausbildung historische Tiefenschärfe ermöglicht.

Wissen Sie schon, wer zu Ihnen an die Graduiertenschule kommen wird?
Wir haben gerade die erste Runde Interviews hinter uns und sind begeistert von der Qualität der Kandidaten. Auch wenn da Projekte aus ganz unterschiedlichen Regionen und Epochen zusammenkommen – wir sind sehr zuversichtlich, dass wir in Heidelberg eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen Theorierahmen entwickeln werden.

Mit dem Professor für Israel- und Nahoststudien sprach Lilly Wolter.

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