Porträt der Woche

»Es fällt mir immer schwerer«

Auf dem Sofa: Ruth Borenstein in ihrer Wohnung Foto: Canan Topcu

Im November hatten wir unseren WIZO-Herbstmarkt. Die Tage davor und danach hatte ich jede Menge zu tun. Am Ende haben wir mehrere Tausend Euro eingenommen. Das Geld, ich habe es gleich am Montag danach zur Bank gebracht, ist für das Theodor-Herzl-Familientherapie-Zentrum in Herzliya.

Danach fühlte ich mich ausgelaugt, die Arbeit war aber noch nicht zu Ende. Ich habe einen ganzen Nachmittag im Keller zugebracht, habe ein- und umgeräumt. In meinem Haus lagerten etliche Kisten und Tüten mit den restlichen Sachen vom Herbstmarkt. Wir veranstalten keinen Basar, sondern einen Markt. Zu einem Basar gehört auch eine Tombola. Dafür muss man aber von Geschäft zu Geschäft gehen und Spenden für Lospreise sammeln. Das kostet zu viel Zeit und Energie, die habe ich nicht.

Mir fällt das alles nicht mehr so leicht wie früher. Ich bin ja schon 80 Jahre alt. Die Leute bedenken gar nicht, dass ich nicht mehr so viel Kraft habe. »Die Ruth macht das schon«, meinen sie, weil ich mich ja schon seit vielen Jahren um den WIZO-Markt kümmere. Seit zwölf Jahren bin ich Vorsitzende von WIZO Hannover. Mitglied bin ich schon seit 1969. Ich engagiere mich sehr gern für die WIZO. Es ist eine sinnvoll verbrachte Zeit. Wenn es einem selbst gut geht, dann ist es wichtig, auch an die zu denken, denen es nicht gut geht.

WinterUrlaub Zum Ausruhen bin ich erst gekommen, als ich im Dezember zwei Wochen im Winterurlaub war. Vorher standen noch Renovierungsarbeiten im Haus an. Ich fahre schon seit vielen Jahren im Winter immer an denselben Ort. Früher traf ich dort zwei Freundinnen aus meiner Berliner Zeit. Aber beide sind inzwischen krank und können nicht mehr reisen.

Im Januar war ich in Israel, um meine neue Urenkelin zu begrüßen. Meine Töchter und ihre Familien leben dort, Gitta schon seit 1980 und Regina seit 1981. Mein Mann und ich hatten ursprünglich auch vor, in Israel zu leben, hatten uns dort sogar eine Wohnung gekauft. Doch dann merkten wir, dass wir uns in Deutschland wohler fühlen.

Als mein Mann vor 20 Jahren starb, haben mir Freunde und Bekannte nahegelegt, zu meinen Töchtern nach Israel zu gehen. Aber ich wollte nicht. Ich sehe meine Kinder mehrmals im Jahr, mal besuchen sie mich, mal bin ich bei ihnen – mindestens zweimal im Jahr, meistens im Frühjahr und im Herbst. In diesem Jahr ist der Rhythmus durcheinandergekommen. Wenn ich in Israel bin, kaufe ich manchmal auch Sachen für den WIZO-Markt.

Vergangenes Jahr hatte ich meinen 80. Geburtstag. Da waren meine Töchter bei mir. Sie haben mir eine Kreuzfahrt geschenkt. Wir sind zu dritt von Hannover nach Istanbul geflogen, haben uns ein paar Tage die Stadt angeschaut und haben dann eine Woche lang eine schöne Tour auf einem Schiff gemacht, mit Halt unter anderem in Izmir. Dort haben wir auch die Synagoge besichtigt – sie heißt wie meine Gemeinde: Etz Chaim, Baum des Lebens.

Ehe Mein Mann war ein polnischer Jude. Er kam nach der Schoa über Umwege nach Berlin. Dort lernten wir uns kennen. Und nach der Heirat zogen wir nach Hannover, weil mein Mann ein Juweliergeschäft übernahm. Ich lernte Julek auf der Geburtstagsfeier einer Kollegin kennen, er war der Freund ihres Freundes. Das war 1957. Dann ging Julek in die USA, kehrte aber nach einem Jahr zurück. Kaum dass er wieder da war, meldete er sich bei mir. Es ging dann alles sehr schnell: Nach vier Wochen fragte er mich, ob wir nicht heiraten wollen. Am Neujahrstag 1959 verlobten wir uns, geheiratet haben wir im Juli.

In der Zwischenzeit habe ich gelernt, weil ich konvertieren wollte. Es kam eigens aus London ein Rabbiner, der mich prüfte. Wenn ich meinen Mann nicht kennengelernt hätte, dann wäre wohl in mir nicht der Wunsch entstanden, Jüdin zu werden. Ich habe den Namen Ruth angenommen. Hier in Hannover kennen mich alle nur als Ruth. Meine Freunde aus alter Zeit nennen mich noch Christa.

Freitags gehe ich meist zum Gottesdienst in die Synagoge, ein wunderschöner Ort ist das. Ich gehöre der Liberalen Gemeinde an und fühle mich wohl dort. Als wir nach Hannover zogen, haben wir Kontakt zur Jüdischen Gemeinde an der Haeckelstraße aufgenommen. Damals, Anfang der 60er-Jahre, waren in der Gemeinde gestandene Frauen und Männer, die das Lager überlebt hatten. Mein Mann und ich haben uns gut integriert in die Gemeinde. Unsere Töchter besuchten dort den Religionsunterricht. Ich habe immer gesagt: Wenn mein Mann vor mir gehen sollte, dann habe ich meine Gemeinde. Später habe ich mich da nicht mehr wohl gefühlt und bin zur liberalen Gemeinde gewechselt – unter der Bedingung, dass ich dort meine WIZO-Arbeit fortsetzen kann.

Für die WIZO gibt es immer irgendwas zu erledigen. Aber auch sonst habe ich stets zu tun. Zweimal die Woche, Dienstag- und Freitagvormittag, gehe ich zur Physiotherapie, wegen meiner Rückenbeschwerden. Leider kann ich nicht mehr so gut laufen. Ausgiebige Spaziergänge schaffe ich nicht mehr. Ich bin aber trotzdem viel unterwegs, mache auch Städtereisen. Vergangenes Jahr habe ich sehr viel gesehen, war unter anderem auch im Spreewald, da habe ich meine Cousine besucht. Das Unterwegssein hält mich jung!

Montags und donnerstags habe ich keine festen Termine. Manchmal fahre ich in die Stadt, mache Besorgungen, gehe zur Bank und danach auch essen. Ich treffe mich regelmäßig mit einer Freundin. Wenn ich mal Lust auf Kultur habe, gehe ich ins Theater oder ins Kino, schaue mir aber nur anspruchsvolle Filme an. In Konzerte von Sängern gehe ich eigentlich nicht, nur bei Max Raabe mache ich eine Ausnahme. Ihn höre ich sehr gern. Vergangenes Jahr, als er ein Konzert in Hannover gab, bin ich hingegangen. Ich habe ein paar CDs von ihm; wenn ich am Sonntagvormittag zu Hause herumwerkele, dann lege ich Max Raabe auf.

Nähmaschine Abends bin ich glücklich, wenn ich an meiner Nähmaschine sitze. Ich bin sozusagen neben der Nähmaschine groß geworden. Meine Mutter war Schneiderin, von ihr habe ich mir vieles abgeguckt. Früher habe ich viel für die Kinder genäht. Heute nähe ich Sofakissen, Schürzen, Taschen, Tischdecken ... – und verkaufe sie auf dem WIZO-Markt. Der junge Mann, dem ich meine Garage vermietet habe, weil ich kein Auto mehr habe, arbeitet in einer Dekofabrik und versorgt mich mit Stoffen– alles Reste. Ich habe einen ganzen Schrank voll davon, mir fällt immer was ein, was ich nähen könnte.

Beim Nähen höre ich Radio, immer Deutschlandfunk. Ich will informiert sein über das, was auf der Welt los ist. Den Fernseher schalte ich nur ein, um Nachrichten zu schauen oder wenn es interessante Sendungen oder gute Filme gibt. Ich gehöre nicht zu den Leuten, bei denen den ganzen Tag über der Fernseher läuft.

Ich habe neben dem Nähen noch ein weiteres Hobby: Ich sammele kleine Figuren, Fingerhüte, Nadelkissen und alte Puppen. Angefangen habe ich damit, als mein Mann noch lebte. Wir haben oft zusammen auf Antikmärkten gestöbert, er hat nach Silbersachen Ausschau gehalten und ich unter anderem nach Puppen. Eigentlich wollte ich keine Puppen mehr kaufen. Neulich konnte ich aber nicht widerstehen, als ich auf einem Markt war.

Ich habe für meine Sammlung ein Zimmer eingerichtet, mit alten Möbeln und Vitrinen. Zweimal im Jahr entstaube ich alles – das macht zwar Arbeit, aber jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrete, habe ich meine Freude.

Aufgezeichnet von Canan Topçu

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