Wuppertal

Ein Lernort in Elberfeld

Die Begegnungsstätte Alte Synagoge im Stadtteil Elberfeld ist in diesen Tagen 25 Jahre alt geworden. Das haben der Trägerverein, Vertreter der Stadt Wuppertal und des gesellschaftlichen Lebens jetzt mit einem Festakt gefeiert. Dass auch Christina Rau, die Witwe des 2006 verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau, aus Berlin zur Feier kam, zeigt, wie ernst und wichtig Erinnerungskultur in Deutschland mittlerweile genommen wird.

Das war längst nicht immer so, wie Alfons Kenkmann, der Leiter des NRW-Arbeitskreises der Gedenkstätten und Erinnerungsorte, in seiner Festrede darlegte. Immerhin habe es in Nordrhein-Westfalen bis 1962 gedauert, bis in Oberhausen die erste Gedenkhalle eröffnet wurde, drei Jahre, bevor in Bayern das Konzentrationslager Dachau zur offiziellen Gedenkstätte wurde. Offensive Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Verfolgung vor allem von Juden, aber auch von Sinti und Roma sowie Oppositionellen war in Zeiten des Wirtschaftswunders in Westdeutschland nicht sehr weit oben auf der politischen Tagesordnung.

Es brauchte unter anderem Oberhausen, es brauchte die Jugendbewegung der späteren 60er-Jahre, und es brauchte mehr Selbstbewusstsein in der Bundesrepublik Deutschland, um zu lernen, mit den Sünden der Vergangenheit umzugehen. Heute gibt es laut Kenkmann etwa 300 Gedenkstätten in Deutschland, darunter die an der Genügsamkeitstraße in Wuppertal.

normalität Mit dem Wissen dessen, was in den dunkelsten Jahren deutscher Geschichte geschehen ist, entwickelt das vermeintlich Unwichtige Bedeutung. Wenn Ulrike Schrader aus dem Brief eines Langerfelder Bandwebers zitiert, der an seine Tochter in der Schweiz schreibt, wenn die Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge nach und nach mehr über diesen Mann und diesen Brief aus dem Jahre 1890 berichtet, über die insgesamt zwölf Kinder des Alten, über dessen Erkenntnis, dass Bildung alles ist, und darüber, dass dieser Bandweber, der vermutlich bescheiden gelebt hat, ein Jude gewesen ist, dann wirkt die Normalität.

Dann beginnt jene Frage das Hirn des Zuhörers zu zermartern, die der Mord an sechs Millionen Juden immer noch und immer wieder aufgibt. Warum? Warum eigentlich wurden und werden Juden seit mehr als anderthalb Jahrtausenden verfolgt. Warum führen sie in Gesellschaften ein Randdasein? Warum müssen sie mancherorts schon wieder verbergen, dass sie Juden sind?

In der Begegnungsstätte Alte Synagoge werden diese Fragen eigentlich gar nicht gestellt und in gewisser Weise doch beantwortet. Seit 25 Jahren, seit die Stätte eröffnet worden ist, beschäftigt sich die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Schrader mit jüdischem Leben im Bergischen Land. Unterstützt von ihrem Ehemann, dem Historiker Michael Okroy, hat sie in unzähligen Briefen zahlreiche Biografien zutage gefördert, die vieles, die eigentlich alles erklären. Die des Bandwebers beispielsweise, der mangels Schulbildung erkannte, wie wichtig Schulbildung doch ist, und ebenso zahlreiche Lebensläufe anderer Juden, Handwerker, Kaufleute, bürgerlicher Mittelstand zumeist – Reiche sind wie bei Christen und Muslime die Ausnahme.

Zivilcourage »Einander kennenlernen heißt, einander verstehen lernen«, zitierte Christina Rau beim Festakt zum 25-jährigen Bestehen der »Alten Synagoge« ihren Ehemann. Er hatte die Begegnungsstätte gemeinsam mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, eröffnet. Die Stätte sei ein Zeichen der Hoffnung in einer Zeit, in der es um Zivilcourage gehe. Und Bubis mahnte, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und gegen Intoleranz sowie Fremdenhass zu arbeiten.

Die zunehmende Verrohung
der Sprache, Intoleranz und Fremdenhass seien Anzeichen dafür, dass solche Stätten notwendig sind, sagt Oberbürgermeister
Andreas Mucke

Der Auftrag ist unverändert und auch 25 Jahre nach den Worten von Johannes Rau und Ignatz Bubis aktuell. Oberbürgermeister Andreas Mucke bezeichnete die Begegnungsstätte denn auch als »Lernort im wahrsten Sinne des Wortes«. Die zunehmende Verrohung der Sprache, Intoleranz und Fremdenhass seien Anzeichen dafür, dass solche Stätten notwendig seien.

Dabei hat auch Wuppertal sich nicht leichtgetan mit der institutionalisierten Erinnerungskultur auf dem Gelände der 1938 niedergebrannten Elberfelder Synagoge. Von der Idee bis zur Eröffnung vergingen 13 Jahre. Und es brauchte die Hartnäckigkeit der damaligen Oberbürgermeisterin Ursula Kraus (SPD), die Fraktionen im Stadtrat von dem Plan zu überzeugen. 1986 war es so weit, acht Jahre später wurde die Begegnungsstätte eröffnet.

Aufklärung Es ist vielleicht eine Wuppertaler Besonderheit, dass diese außerschulische Bildungseinrichtung nicht von Personen, sondern von Institutionen getragen wird. Die Stadt Wuppertal, Kirchen, Vereine und Stiftungen sorgen dafür, dass Schrader, Okroy und deren überschaubare Zahl von Mitarbeitern die Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit leisten können. Sie tun das sachlich und wissenschaftlich auf höchstem Niveau.

Gerade in Zeiten, in denen oberflächliche 140- bis 280-Zeichen-Erkenntnisse Konjunktur haben, sind Fakten bedeutend. Das gilt auch dann, wenn sie vermeintlich noch so banal scheinen wie der Brief des alten Bandwebers aus Langerfeld. Ein ganz normaler Brief über ein ganz normales Leben einer ganz normalen Familie, deren Mitglieder nur ein paar Jahre später zu den Opfern des größten Menschheitsverbrechens gehören. Warum? Auf diese Frage gibt die Begegnungsstätte keine Antwort. Auf diese Frage kann es keine Antwort geben.

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