Hannover

Die Stille nach dem Wurf

Ungefähr 80 Meter ist er groß, ein Dutzend kleinere Kastanien und Linden in Waschbeton-Karrees stehen darauf. Ringsum graue Hochhäuser und vierstöckige, rote Backsteingebäude. Die Gegend um den Sahlkampmarkt ist trostlos und menschenleer. Der Supermarkt und das Reisebüro liegen verloren in den Gebäuden. Vor knapp zwei Wochen noch war die Stimmung hier ausgelassener: Zum »5. Internationalen Tag« waren Stände aufgebaut, es roch nach Gegrilltem, Musik beschallte das Wohngebiet. Eigentlich sollte es ein Fest für Alteingesessene und Zuwanderer werden. Doch als am Abend die Tanzgruppe der Liberalen Jüdischen Gemeinde die Bühne auf dem Markt betrat, um ein Programm mit israelischen Tänzen vorzutragen, schallten ihr plötzlich »Juden-raus-Rufe« entgegen. Mehrere Dutzend Kinder und Jugendliche aus dem Publikum, so schilderten es Festteilnehmer und Tänzer, riefen antisemitische Parolen und warfen Steine auf die Bühne. Die großen Kiesel hatten sie sich offenbar schon vorher in die Taschen gestopft. Zudem hatten die Schreier ein Megafon dabei.

Steinwurf Der Auftritt wurde zunächst abgebrochen. Der Leiter des Stadtteiltreffs, der das Straßenfest am 19. Juni veranstaltet hatte, versuchte, Ruhe in das Publikum zu bringen, drohte damit, die Polizei zu holen, tat dies dann aber nicht. Die Tanzgruppe, sieben Frauen und ein Mann, versuchte, ein zweites Mal aufzutreten. Als zwei Steinwürfe eine Tänzerin verletzten, verließ die Gruppe endgültig die Bühne. Drei Tage später erstattete Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil (SPD) Strafanzeige. Die Polizei leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung, und der gefährlichen Körperverletzung ein. An Verurteilungen des Angriffs und Mahnungen zur Toleranz hat es danach nicht gefehlt. »Wir werden antisemitische, rassistische oder fremdenfeindliche Ausfälle hier nicht dulden«, sagte OB Weil.

Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) versicherte, dass die Polizei den Vorfall mit großer Entschlossenheit verfolge. Antisemitische Tendenzen unter muslimischen Jugendlichen seien in Niedersachsen bereits als Problem erkannt, fügte er hinzu. Die Landessozialministerin Aygül Özkan äußerte sich bestürzt über diesen Gewaltausbruch. Dieser widerspreche dem Gedanken der Integration fundamental. An das Toleranzgebot habe sich jeder zu halten, ganz unabhängig von Religionszugehörigkeit, Herkunft und politischem Standpunkt, sagte sie. Auch die Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde in Hannover, Yazid Shammout, verurteilte jede Form von Gewalt. Solidarität mit den Palästinensern im Gazastreifen werde immer wieder missbraucht, um antiisraelische Stimmung zu machen. Von da sei es zum Antisemitismus nur ein kleiner Schritt.

93 Nationen Sahlkamp im Norden Hannovers liegt weitab vom Zentrum und gilt als Problemgebiet. Schwierig ist das Zusammenleben vor allem in den Hochhäusern aus den 70er-Jahren in Sahlkamp-Mitte rund um den Markt. 93 Nationen leben in Sahlkamp, der Ausländeranteil liegt mit 16,7 Prozent über dem Durchschnitt der Landeshauptstadt von 14,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit beträgt etwa 50 Prozent. Ein Viertel der Einwohner bezieht Hartz IV, bei den Familien mit Kindern sind es 39 Prozent. Ob es sich bei dem Angriff um eine länger geplante oder spontane Aktion handelt, hat die Polizei noch nicht geklärt. Auch das Megafon, das die inzwischen neun ermittelten Kinder und Jugendlichen dabei hatten, gebe noch keinen Aufschluss, sagt ein Polizeisprecher. Geräte dieser Art hätten auch Fußballfans häufig dabei.

Sozialarbeiter Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover wurde von der Attacke völlig überrascht. »Unsere Tanzgruppe ist seit Jahren auf Stadtteilfesten aufgetreten«, sagt die Vorsitzende Ingrid Wettberg. »Wir wollen ein offenes Haus sein und auch nach außen gehen«, betont sie. Noch nie habe es einen ähnlichen Angriff gegeben. Die Tat stelle eine erhebliche Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft in Hannover dar. Städtische Sozialarbeiter dürften antisemitische Beschimpfungen nicht länger als bloße Sprüche verharmlosen, verlangt sie. Längerfristig setzt Wettberg auf Ganztagsschulen, die ein Gegengewicht zu der Erziehung in Familien der Zuwandererkinder bilden sollen und auf einen Ethikunterricht ab Klasse 1.

Weniger überrascht zeigt sich Wolfram Stender, Professor an der Fachhochschule Hannover. Der Sozialwissenschaftler hat 80 Schüler aus den hannoverschen Stadtteilen Sahlkamp, Linden-Süd und Badenstedt intensiv nach antisemitischen Vorurteilen befragt. Anlass waren besorgte Berichte von Lehrern. »Es ist unvorsichtig gewesen, die Tänzer ohne Schutz auftreten zu lassen«, sagt Stender. Seine Interviews in Hannover haben vor allem bei Jugendlichen aus arabischen Ländern, aus der Türkei und bei Russlanddeutschen antisemitische Vorurteile gezeigt. Allerdings, so Stender, seien auch deutsche Schüler nicht frei von diesen Vorurteilen.

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