Porträt der Woche

Der Mann mit dem Hut

Studiert Geschichte und Politikwissenschaft: Ronny Rohde (22) vor der Rostocker Uni Foto: Claudia Tupeit

Seit einigen Jahren lebe ich orthodox. Meine Eltern sind nicht religiös. Sie sind in der DDR aufgewachsen. Sie haben aber kein Problem mit meinem orthodoxen Leben. Zum Beispiel hat meine Mutter nach einigen Jahren verstanden, dass ich am Schabbat nicht ans Telefon gehe. Das war anfangs schwierig, weil sie es immer wieder vergessen hat. Mittlerweile versteht sie mich. Ich habe mit meinen Eltern nie übers Orthodoxsein gesprochen, ich habe es einfach gemacht.

Ich glaube, angefangen hat es, weil es mir ab einem gewissen Punkt nicht mehr gereicht hat zu wissen, da war der Holocaust, und meine Familie hat irgendetwas damit zu tun. Ich wollte wissen, was genau mich anders macht als meine Klassenkameraden. Ich begann, mich mit der jüdischen Geschichte intensiver zu beschäftigen und dann zwangsläufig mit der Religion. Das hat mir Orientierung gegeben, es war ein gutes Gefühl zu wissen, wer man ist.

entwicklung Anfangs war es reines Selbststudium mit Büchern und Internet. Dann hatte ich das Glück, an die Lauder-Foundation zu geraten. Die Stiftung finanziert jüdische Bildungsprojekte in Deutschland und Osteuropa. Das hat meiner Entwicklung einen sehr großen Schub gegeben hin zur Orthodoxie. Das kam mir authentischer und klarer vor. Bei der Foundation wurde intensiver über Dinge gesprochen. Werte haben sich bei mir eingebrannt, zum Beispiel habe ich begriffen, dass man jüdisch heiraten muss. Solche Werte waren mir vorher nicht klar. Schon gar nicht in Schwerin, wo ich aufgewachsen bin und wo meine Familie seit Langem zu Hause ist.

Jüdisch zu heiraten wurde mir mit zunehmendem Alter immer wichtiger. Es wäre für mich ein Identitätsproblem geworden, wenn ich mich in eine Nichtjüdin verliebt hätte. Mein Glaube und der Wunsch, eine jüdische Familie zu gründen, stehen an erster Stelle. Im August 2011 haben wir geheiratet, bei Rabbiner Ehrenberg in Berlin, wo meine Frau lebt. Es war eine typisch jüdische Hochzeit, sehr viele Leute waren da, zwischen 100 und 200. Und die »Holy Smokes« haben gespielt, eine Rabbiner-Band.

mecklenburg Ich hätte in Berlin studieren können. Das wäre für mein Geschichts- und Politologiestudium sicherlich die bessere Wahl gewesen als Rostock. Und was das jüdische Leben betrifft, ist Berlin der Region Mecklenburg weit voraus. Fleisch essen zum Beispiel geht hier gar nicht. Es gibt hier kein koscheres. Und meine Küche wäre für die Trennung zu klein. Aber ich hole das immer in Berlin nach. Ich bin gern dort, denn da gibt es ein klares jüdisches und religiöses Milieu.

Sicherlich werde ich, wie viele junge religiöse Leute, bald nach Berlin gehen. Aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich in Mecklenburg sehr wohl. Das liegt bestimmt auch daran, dass ich hier aufgewachsen bin. Mein Bauchgefühl hatte mir gesagt, dass ich in der Gegend bleiben sollte. Und so landete ich in Rostock.

Hier habe ich in meiner neuen Gemeinde gut Anschluss gefunden. Ich bringe mich ein, zum Beispiel in der Jugendarbeit. Es gibt ein vom Zentralrat initiiertes Projekt. Da geht es ums Organisieren von Veranstaltungen für Leute zwischen 18 und Anfang 30. Wir machen Ausflüge, gehen abends was trinken.

Ob ich aus religiöser Sicht strenger als die anderen in Rostock lebe, kann ich nicht beurteilen. Manchmal habe ich diesen Eindruck. Ich weiß nur, wenn ich in der Synagoge bin, trage ich als Einziger Anzug. Als ich in der liberalen Rostocker Gemeinde ankam, wurde ich akzeptiert, wie ich bin. Niemand wollte mich liberalisieren. Viele Ältere kamen auf mich zu, waren interessiert an mir. Es war aber sprachlich schwierig, weil die meisten wenig Deutsch können, fast nur Russisch.

Meine Kippa verstecke ich unter einer Mütze, wenn ich durch die Stadt laufe. Das ist besser, weil ich gemerkt habe, dass es sonst feindselige Blicke gibt. Rostock ist eine sehr deutsch geprägte Stadt. Wenn ich am Schabbat in die Synagoge gehe, nehme ich extra einen Weg, auf dem ich nicht so vielen Leuten begegne. Mit Anzug und Hut ist mir das zu heikel. Ich reagiere aber darauf, wenn mir auf der Straße Leute etwas hinterherrufen. Ich gehe hin und stelle sie zur Rede. Damit rechnen sie nicht. Diese Konfrontation muss ich aber nicht jeden Tag haben. Okay ist, wenn Schulklassen manchmal lachen, sie können die Kleidung nicht zuordnen. Und ganz kleine Kinder halten mich mit dem Hut für einen Zauberer. Das finde ich lustig.

Ich denke manchmal darüber nach, in Israel zu leben. Gerade die Beschneidungsdebatte hat mir gezeigt, dass man in Deutschland nicht dazugehört. Da ist die Mehrheitsgesellschaft, die definiert, was zum Land gehört und was nicht. Aber sie hat nicht verstanden, dass Minderheiten genauso Teil des Landes sind und alle gemeinsam das Land bilden. Ich weiß nicht, ob ich mich damit noch jahrelang herumplagen möchte. Ich kann die Gegenseite nicht verstehen.

Ich sehe keinen Mehrwert darin, Israel zu kritisieren. Es gibt keine Frankreichkritik, keine Luxemburgkritik. Ich habe das Gefühl, das Wort Israelkritik ist die Selbstbezeichnung eines zeitgemäßen Antisemitismus. Israel ist nicht unantastbar, aber ich frage mich, warum sich alle Welt um Gaza sorgt, aber sich niemand für Darfur oder Nordkorea interessiert. Das sind doppelte Standards. Ich behaupte, wenn Israel ein arabischer Staat wäre, hätten wir die ganzen Diskussionen nicht. Israel ist aber ein jüdischer Staat. Damit kommt die arabische Mehrheit nicht klar. Und es gibt bei der westlichen politischen Linken die Tendenz, sich auf die Seite des vermeintlich Schwächeren zu stellen. Aber der Schwächere ist nicht zwangsläufig im Recht.

antisemitismus Israel gibt mir etwas, und ich fühle mich verpflichtet, etwas zurückzugeben. Deswegen habe ich in Rostock mit ein paar Mitstreitern eine Hochschulgruppe der Deutsch-Israelischen Gesellschaft gegründet. Ich bin der einzige Jude in dieser Gruppe. Uns geht es darum, auf Antisemitismus in all seinen Facetten aufmerksam zu machen und dagegen vorzugehen. Wir wollen gucken, wo die Wurzeln liegen, und dafür leisten wir uns politische Auseinandersetzungen. Das führte schon dazu, dass die Uni-Leitung auf Anraten des Landesverfassungsschutzes eine unserer Veranstaltungen verbieten ließ.

Wir wollten gucken, wie es tatsächlich um die sogenannte Israel-Solidarität steht. Dafür hatten wir den Berliner Publizisten Justus Wertmüller eingeladen, der für die Zeitschrift »Bahamas« schreibt, die als antideutsch gilt. Wertmüller ist tatsächlich umstritten, klar, aber wir hielten ihn für einen passenden Referenten, es sollte provokant sein. Dann kam die Intervention des Verfassungsschutzes. Es sei linksextremistisch. Ich finde das sehr merkwürdig, denn es wurde bis heute nicht belegt. Alles, was in Deutschland radikaler nachgefragt werden soll, ist gleich extremistisch.

Das zeigt mir, dass hier doch nicht der richtige Platz für mich ist. Seit 1945 hat sich nicht viel geändert, es hat nur andere Formen angenommen. Ich vermute, dass es mir genauso geht wie meinen Großeltern. Die haben in den 30er-Jahren eine normale Tageszeitung aufgeschlagen, etwas Antisemitisches gelesen und sich darüber empört. Und so empöre ich mich heute. Es gibt Antisemitismus. Dafür muss man sich keine NPD-Veranstaltung anschauen, sondern es reicht, die »Süddeutsche« aufzuschlagen, wo das Grass-Gedicht auf Seite eins stand.

Aufgezeichnet von Claudia Tupeit

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