Porträt der Woche

»Demokratie ist Arbeit«

Stacey Blatt ist Englischdozentin und engagiert sich für Flüchtlinge, Kunst und Fußball

von Annette Kanis  12.01.2016 09:57 Uhr

»Ich möchte hier einen Platz haben – deshalb bleibe ich in der Gemeinde, auch wenn es schwierig ist«: Stacey Blatt (57) aus Duisburg Foto: Jochen Linz

Stacey Blatt ist Englischdozentin und engagiert sich für Flüchtlinge, Kunst und Fußball

von Annette Kanis  12.01.2016 09:57 Uhr

Ich bin ein absolut großer Duisburg-Fan. Manchmal denke ich, meine Begeisterung hat ein bisschen mit Los Angeles zu tun, wo ich geboren wurde – weil es hier im Ruhrgebiet so viele Städte nebeneinander gibt. Ich denke, die Breite und Dichte tragen dazu bei, dass ich mich hier superwohl fühle.

Ich mache alles mit meinem Fahrrad: zur Arbeit fahren, einkaufen, Freunde treffen. Jeden Tag bin ich mit meinem Fahrrad unterwegs. Das ist meine große Freude – und so anders als in Amerika. In Los Angeles kann man ohne Auto nichts machen, obwohl ich dort mitten in der Stadt gewohnt habe.

Studiert habe ich dann in New York City und auch gearbeitet. Dort wiederum erledigt man alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wegen des Jobs meines Mannes sind wir 1994 nach Deutschland gezogen. Er bekam eine Stelle an der Uni, zuerst in München, dann in Duisburg.

Familie Kennengelernt haben wir uns 1982 auf einer Party in New York. Er ist Physiker, ich bin Künstlerin. Jeder ist anders, aber es gibt auch Überlappungen. So interessiert sich zum Beispiel unsere ganze Familie für Politik.

Die Kunstszene liegt mir sehr am Herzen. Sie ist in Duisburg und Umgebung überraschend gut, das hatte ich nicht erwartet. Es gibt wirklich großartige Museen und auch eine echt tolle Kunstszene. Ich selbst bin keine Malerin, meistens arbeite ich mit Textil. Das mache ich zu Hause. Ich hatte das damals so entschieden wegen der Kinder.

Mittlerweile sind sie erwachsen. Das Zimmer meines Sohnes, der in Berlin Mathematik studiert, ist voll mit meinem Kram. Mein zweites Standbein ist Englischunterricht. Ich bin Lehrbeauftragte an der Uni für Wirtschaftsenglisch und gebe Kurse an der Volkshochschule. An manchen Tagen unterrichte ich sieben Stunden, an anderen gar nicht.

zeitschrift Ich mache selbst Kunst, organisiere aber auch Projekte. So bin ich Mitgründerin einer Duisburger Kulturzeitschrift, »Streif«. Gemeinsam mit drei anderen Duisburger Künstlern konzipieren wir derzeit die dritte Ausgabe zu zeitgenössischer Gegenwartskunst im breitesten Sinne: Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, Fotografie, Comics, Zeichnungen, Street Art – alles aus Duisburg.

»Streif« erscheint einmal pro Jahr und wird in Buchhandlungen und Museen verkauft. Es ist eine Menge Arbeit und macht viel Spaß. Wir sind stolz, dass es das gibt.

»Kunst in Zwischenzeit« ist ein anderes Projekt, bei dem ich aktiv bin. Hier werden leer stehende Räume genutzt, um Kunst auszustellen. Gerade ist es die alte Zentralbibliothek, die in diesem Jahr noch abgerissen werden soll. Ähnlich angelegt waren in den vergangenen Jahren Kunstinstallationen in leer stehenden Schaufenstern.

Zurzeit bereite ich das Projekt »Geparkte Kunst« mit vor, als Teil des Duisburger Kulturfestivals im März. Hier steht das Auto als Kunstobjekt – oder Kunst im Auto – im Vordergrund. Jeden Tag wird ein neues Auto auf dem Neumarktplatz dazukommen, 17 Tage lang.

Alltag Eine Routinewoche gibt es bei mir nicht – aber die Wochenenden sind immer ähnlich. Dann korrigiere ich Examen, schaue samstags Bundesliga, sonntags den Tatort.

Seit ich in Deutschland lebe, bin ich riesiger Bundesliga-Fan. Jede zweite Woche gehe ich ins Stadion zum MSV Duisburg. Wir sind ziemlich schlecht. Zweite Liga, letzter Platz. Heute begeistert mich Fußball, früher in Amerika war es Baseball. Darüber lese ich jetzt nur noch in der Zeitung, damit ich auf dem Laufenden bleibe.

Ich habe auch einen Künstlerfanclub gegründet für den MSV. Die Leute denken, Kunst und Sport haben nichts miteinander zu tun, aber ich habe entdeckt, dass viele Künstler auch MSV-Fans sind.

religion Einmal pro Monat besuche ich einen liberalen Gottesdienst. Dort fühle ich mich zu Hause. Als ich vor 15 Jahren nach Duisburg kam und das erste Mal in der Synagoge war, musste ich nach oben gehen als Frau. Das war ein großer Schock.

Für mich persönlich ist es nicht so wichtig, weil ich weiß, wer ich bin und was ich denke. Mir ist klar, dass es anders ist als in Amerika, dass es in Deutschland zudem eine weniger große Auswahl an Synagogen gibt. Ich hatte aber meine kleine Tochter dabei. Das war plötzlich nicht okay, dass sie denkt, es sei akzeptabel, dass wir nach oben geschickt werden. Das wollte ich nicht.

Aus meiner Sicht ist es absurd, dass Frauen wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Dass ich da so empfindlich reagiere, hängt mit meiner Kindheit in den USA zusammen. Ich bin in Amerika aufgewachsen. Ich weiß, was es bedeutet, im Bus hinten zu sitzen. Es heißt zwar »separate but equal« – doch die Realität sieht anders aus. Daher kann ich das nicht mehr hören, wenn Leute sagen, es sei »eine Ehre«, oben zu sitzen.

gemeinde Es gab in den letzten Jahren sehr viele Rabbinerwechsel in Duisburg. Zeitweise hatten wir einen liberalen Rabbiner aus Amerika. Er hat dahingehend einen Kompromiss geschlossen, dass er unten ein Familienabteil eingerichtet hat. Eigentlich schön – man konnte mit den Kindern zusammen unten sitzen.

Viele sagen, dass wir in dieser Zeit einen liberalen Gottesdienst hatten. Aber das stimmt nicht. Denn alles war auf Hebräisch, und er hat uns den Rücken zugedreht. Frauen durften zwar unten sitzen, aber waren dennoch getrennt durch eine Wand. Ich war total zufrieden mit ihm, aber es war ein Kompromiss. Eine Trennwand bleibt eine Trennwand.

Man kann nicht sagen, wir sind näher gerückt, das wäre absurd. Aber ich sah das als Prozess. Jetzt haben wir einen ultraorthodoxen Rabbiner. Es ist also noch schwieriger für mich.

minderheit Doch einmal im Monat bietet eine kleine Gruppe von zehn, zwölf Betern einen liberalen Gottesdienst an. Dort habe ich jetzt einen festen Platz. Das ist für mich sehr wichtig – dass ich einen Platz habe, wo ich mich wohlfühle.

Ich bin nicht religiös, weil ich denke, dass das Judentum eine gute Religion ist. Ich bin Jüdin, weil ich einfach so geboren bin. In Deutschland gehöre ich das erste Mal in meinem Leben zu einer Minderheit. In New York und in Los Angeles gab es so viele Juden.

Als Angehöriger einer Minderheit hat man eine stärkere Identität. Außerdem wollte ich, dass ich auch zähle als Jude in Deutschland. Ich möchte, dass die Anzahl der Juden hier wächst. Dass wir hier einen Platz haben. Aus diesem Grund bleibe ich in der Gemeinde, auch wenn es schwierig ist.

Zivilgesellschaft Was sich durch mein Leben zieht, ist, dass ich politisch aktiv bin. Ich glaube an Demokratie. Demokratie heißt mehr, als einfach nur von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Man muss mitmachen, sich engagieren. Man ist mitverantwortlich für die Regierung, das System.

Demokratie ist Arbeit. Du kannst nicht nur meckern. Das geht nicht. Man muss wirklich versuchen, etwas zu beeinflussen und alle Mittel zu nutzen, die man hat: schreiben, sprechen, lehren, Leuten etwas beibringen. Für mich war das immer ein großer Teil meines Lebens.

Ich selbst bin aktiv im Kulturbeirat und in Arbeitsgruppen. Als ich jünger war, da waren es große Themen wie Bürgerrechte, Vietnamkrieg, Südamerika-Problematik. Heute geht meine Tochter zu Demos, und ich arbeite von zu Hause aus für die kleinen, langweiligeren Sachen.

Es gibt diesen Spruch »Think globally, act locally« – denke global, handle vor Ort. Das ist zwar klischeehaft, aber ich finde es wichtig. Auch in den Stadtteilen gibt es Bedürfnisse – das ist den Menschen wichtig. Wir haben zum Beispiel für einen Bolzplatz in unserem Stadtteil gekämpft, aktuell engagiere ich mich in der Flüchtlingsarbeit. Die Idee der Partizipation, dass man mitmachen muss in der Zivilgesellschaft – das finde ich sehr wichtig.

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